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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

angegeben und sie als Posten auf dem Schillerplatz zurückgelassen. Nun war er zur Kasernenwache geeilt, hatte die Polizei benachrichtigt, sich nach Fuhrwerk umgethan und als er am Rendezvous-Platz angelangt war, da hatte sich dort schon mehr als ein Dutzend Nachzügler eingefunden und weitere wurden noch fortwährend dahin gewiesen, bevor die bestellten Wagen erschienen. Einige Herren vom Civil waren auf seine Thätigkeit aufmerksam geworden, hatten ihn beim Sammeln der Verspäteten unterstützt und schließlich hatte man gemeinschaftlich Kaffee getrunken und, da sich schon längere Zeit kein Versprengter mehr eingestellt hatte, waren alle zusammen dem Regiment nachgefahren. Es war auch wirklich die ganze noch fehlende Gesellschaft gewesen, die Tilmanns gesammelt und uns nachgebracht hatte, und darüber sprach ihm der Oberst jetzt seine volle Zufriedenheit aus. Das hatte der Feldwebel jedenfalls am wenigsten erwartet und als nun das Kommando „An die Gewehre!“ erfolgte, da hörte ich ihn murren: „Das erste Mal in meinem Leben, daß ich ’nen Drückeberger habe belobigen hören!“

Der jetzt beginnende viertägige Marsch durch Rheinhessen und die Pfalz zählt sicher zu meinen eigenartigsten und interessantesten Erinnerungen aus dem Feldzug, allein nicht etwa aus dem Grund, weil er als einfacher Reisemarsch uns keine Anstrengungen gebracht hätte. Das Gegenteil war der Fall, denn abgesehen von den Beschwerden, welche bei der herrschenden tropischen Hitze jeder Marschtag für eine so wenig marschgewohnte Truppe haben mußte, hatten wir fortwährend an der Festigung des inneren Gefüges derselben zu arbeiten. Unterwegs wurden die Zügel der Marschdisciplin stetig fester angezogen, und waren wir in die Quartiere eingerückt, so begann, kaum daß die Leute die notwendigste Ruhe gehabt, das Exerzieren. Thatsächlich wurde während der ganzen Zeit bis zum Abend des 2. August jeden Tag systematisch im Detail, in Zügen und in der Compagnie exerziert, auch gelegentlich im Bataillon eine Felddienstübung gemacht – wie in der Garnison, hätte man sagen können, wenn die Mannschaften dazu nicht feldmarschmäßig angetreten wären. Allein für die Mühen des Dienstes wurden wir reichlich entschädigt durch die ungemein herzliche Aufnahme, die, uns seitens der Bevölkerung überall zu teil wurde, und die uns gebotene Verpflegung in dem reichen und gastfreien Landstrich war einfach über jedes Lob erhaben. Waren wir doch das erste preußische Regiment, welches sich jetzt in diesem kerndeutschen Lande blicken ließ, das in früheren Zeiten so oft von französischen Heerscharen gebrandschatzt und verwüstet worden ist, und waren doch schon fast vierzehn Tage darüber vergangen, daß der Krieg zur furchtbaren Gewißheit geworden und die Pfälzer täglich davor zittern mußten, eine abermalige französische Invasion über sich hereinbrechen zu sehen. Aber mit dem Erscheinen der ersten blitzenden Helme war diese Furcht von ihnen gewichen und machte der freudigsten Zuversicht Platz, die sich darin äußerte, daß jeder einzelne sich verpflichtet fühlte, alles nur Erdenkbare für die Soldaten zu thun, die ihn, seine Familie, sein Eigentum vor dem drohenden Unheil zu schützen kamen, Dies Bestreben der Bevölkerung ging so weit, daß die mit Einquartierung belegten Ortschaften darum beneidet wurden, und daß andere, welchen diese Ehre nicht zu teil geworden, alles aufboten, sich uns während des Marsches nützlich und angenehm zu erweisen.

Wohl ausgeruht in den vorzüglichen Quartieren eines großen Dorfes, in welchem unsere Compagnie allein gelegen, rückten wir frühzeitig am zweiten Marschtag aus und der „Herr Burremeeschter“ ließ es sich nicht nehmen, uns selbst den nächsten Weg nach dem Rendezvous-Platze zu zeigen, wo sich das ganze Regiment sammeln sollte. Wir waren bereits in der richtigen Weingegend und so führte dieser kürzeste Weg bald bergan zwischen Weinbergen hindurch, deren Höhe wir fast erstiegen hatten, als vor uns ein junger Mensch auftauchte, der, sobald er uns erblickt hatte, eifrigst Zeichen nach rückwärts machte, worauf ein alter Mann mit schneeweißem Haar erschien. Den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen mit beiden Händen gegen die Morgensonne geschützt, stand er da und schaute uns entgegen, bis wir ihn beinahe erreicht hätten. Dann riß er plötzlich seine Mütze vom Köpf, schleuderte sie hoch in die Luft und jubelte: „Hurra! Der Bub’ hat wahrhaftig recht, die Preuße sin da! Jetzt hawwe wer gute Ruh’ vor dene Franzose; die komme desmal net eriwwer!“ Und barhaupt eilte er den steinigen Weinbergpfad hinunter mit einer Geschwindigkeit, die ich seinen alten Beinen nimmermehr zugetraut hätte. Als wir aber drunten im Thal das Dorf erreichten, da erlebten wir unseren ersten feierlichen Empfang.

Um eine scharfe Ecke in die Dorfstraße einbiegend, sahen wir die ganze Einwohnerschaft längs der Häuser aufgestellt, während die Straße selbst durch uniformierte Feuerwehr abgeschlossen war, vor welcher sich einige ältere Männer aufgestellt hatten. Was mir am meisten auffiel, war, daß diese letzteren Männer alle mit eigenartigen hölzernen Henkelgefäßen, sogenannten „Stützen“ bewaffnet waren, die, mit Harz ausgegossen, den dortigen Weinbauern zum Abziehen ihrer Faßweine dienen. Diese Art der VerWendung war mir damals noch neu, obgleich ich die Gefäße selbst gut genug kannte, denn sie wurden auf unseren Wachtstuben in Mainz allgemein zur Aufnahme des Trinkwassers benutzt. Da es indes noch sehr früh am Tage war, so war meiner Ansicht nach kein Bedürfnis zum Trinken bei unseren Leuten vorhanden, und als nun der erste der uns Bewillkommnenden mit seiner Stütz’ an die Compagnie herantrat, glaubte ich ihn abwehren zu sollen und bemerkte ihm sehr höflich, mit der Hand am Helm: „Danke sehr, lieber Mann. Wir sind noch nicht lange marschiert, die Leute brauchen noch kein Wasser!“

Da kam ich aber schön an!

„Was!“ schnaubte mich der Hüne, der mich um ein Bedeutendes überragte, aufgebracht von oben herunter an, „Wasser? Ja, glauwe Se dann, mir hätte dene Soldate, die die Franzose Mores lehr’n wolle, nix Besseres anzubiete, als Wasser? ’s isch von unserm beschte Wein. Probiern Se’n nor selwer!“

Ein Versuch, mich dem Erzürnten gegenüber zu entschuldigen, mußte unverstanden bleiben, denn soeben intonierte die Feuerwehrmusik die „Wacht am Rhein“ und zwar mit hervorragender Wirkung in der engen Straße. Ich mußte also nachgeben und that einen tiefen Zug aus der Stütz’, die der Mann mir mundgerecht hinhielt, und ich mußte zugestehen, der Wein war gut, sogar sehr gut. Mein Gegenüber mochte mir dies Zugeständnis am Gesicht ablesen, denn er winkte mir auf einmal ganz freundlich zu, brüllte mir ein „Seh’n Se!“ in die Ohren und reichte die Stütz’ dem Feldwebel, der sofort dahinter verschwand?

So gut wie ich, hatte auch inzwischen der Compagnieführer nachgeben müssen; es war ihm diesen lieben derben Menschen gegenüber nichts anderes übrig geblieben. Wir mußten Halt machen, eine Rede anhören, den Wein gründlich probieren und erst dann wurden wir – in sehr gehobener Stimmung – von der Musik aus dem Ortsgebiet hinausgeblasen.

Auf dem Rendezvous-Platz erwartete uns schon wieder eine Ueberraschung merkwürdigster Art. Dieselbe bestand in einer großen Zahl von Leiterwagen, welche sich rings um den Sammelplatz aufgestellt hatten und die nichts mehr und nichts weniger bezweckten, als das ganze Regiment nach seinen nächsten Quartieren zu fahren. Die Unterhandlungen über diesen Fall waren, als wir ankamen, in vollem Gange, denn der Oberst stand in eifriger Unterhaltung bei einer dichten Gruppe älterer Leute, „lauter Burremeeschters“, wie mir einer der Wagenlenker verriet.

Natürlich mußte der Regimentskommandeur das Anerbieten, soweit es die Mannschaften betraf, ablehnen, wenn er auch bereits zu dem Zugeständnis bewogen worden war, daß das Gepäck, sogar die Mäntel und schließlich die ganze Regimentsmusik gefahren werden dürfe; letztere müsse aber unterwegs fleißig dafür spielen. Zu weiteren Konzessionen ließ er sich indes nicht verleiten, und ich hörte, wie er eben mit seiner ganzen gewinnenden Liebenswürdigkeit sagte: „Es thut mir unendlich leid, meine Herren, aber es geht wirklich nicht. Glauben Sie mir, es geht entschieden nicht!“

„Mer wolle’s Ihne glauwe, Herr Owerscht!“ erwiderte einer der Burremeeschters, offenbar durchaus nicht befriedigt von dem Ergebnis der Unterredung. „Mer hawwe alleweil gedenkt, je besser ausgeruht die Soldate sin, wenn se an die Franzose komme, desto besser wer’n se’n heimleuchte! Awer nix für ungut, Herr Owerscht; nix für ungut!“

Damit waren die Ueberraschungen noch immer nicht zu Ende, Wir erfuhren nun, daß eine Deputation mehrerer großer Ortschaften darum gebeten hatte, an einem geeigneten Punkte, den wir gegen zehn Uhr erreichen mußten, das Regiment mit einem „kleinen Frühstück“ bewirten zu dürfen. Auch hierin hatte unser Oberst nachgegeben, obgleich er den Aufenthalt nicht gern sah, durch den wir beim Weitermarsch in die heißeste Tageszeit geraten mußten. Desto weniger Zeit aber wollten wir jetzt verlieren und so wurde schleunigst angetreten, wobei uns noch eine Ueberraschung zu teil wurde, diesmal allerdings keine angenehme für uns Vorgesetzte. Ein Teil der nicht für das Gepäck etc. in Anspruch genommenen Wagen – und das war bei weitem die Mehrzahl der erschienenen – war durchaus nicht zu bewegen, unverrichteter Dinge wieder nach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_514.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2022)