Seite:Die Gartenlaube (1895) 519.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sagst Du: die ist nichts, die wird nichts. Ein kleines, unbedeutendes, charakterloses, faules ... Du weißt alles. Vater –!

Nun ja, sagte Volkmar, so ganz umsonst hab’ ich wohl nicht gelebt, ich seh’ mehr als Du. Ob jemand etwas mehr oder etwas weniger klein ist, dazu braucht’s wohl längeres Hinschauen; aber ob einer etwas wahrhaft Großes ist ober nicht, das fliegt in die Augen – wenn man sie groß aufmachen gelernt hat. Rudolf Volkmar aber, der noch vor dem mündlichen Schulexamen steht, will nach einer Plauderstunde – wie sagtest Du – „sein Lebensglück zum Opfer bringen, um diese Thea zu retten“! – Junge! Du, der Schwärmer für alles Edle und Große – dem kaum die Menschheit groß genug war, unn sich ihr zu opfern – der „in seinem Gott“ lebte – der schon als Knabe so oft in seinem Tagebuch – – da liegt’s noch. Ich hab’ noch gestern wieder drin gelesen. Und die Stellen, die mir am besten gefielen, hab’ ich rot angemerkt – so wie die andern, die „verliebten“, blau. Denn Dein Tagebuch macht Dir auch Ehre, Rudolf. Ich kenn’ keinen jungen Menschen, der so früh und mit so warmem Herzen seinen Idealen, seinem Gott – – Lies zum Beispiel das!

Er nahm das Buch vom Bildermappentisch und blätterte, bis er die erste rot angezeichnete Stelle fand. Da warst Du etwa fünfzehn Jahr’ und ein halbes; hattest wieder den „himmlischen Don Carlos“ Deines „großen Schiller“ gelesen. „O, dieser edle Marquis Posa“ – – Bitte, lies. Aber laut. Daß wir’s beide hören!

Aber, Vater –

Nur zu!

„O dieser edle Marquis Posa“, begann Rudolf mit klangloser, unlustiger Stimme, „er hat mich mit seinen freien, großen Ideen zu einem neuen Feuer angefacht, Freiheit der Gedanken, reinen Gottglauben zu verbreiten, zu meinem Lebenszweck zu machen!“

Ein etwas verunglückter Satz, sagte Volkmar. Das thut nichts. Bitte, da unten auf der nächsten Seite!

„Ja, wie es auch werde, Großes, Edles, Freies will ich thun in meinem Leben, will immer Gott in meinem Busen wohnen lassen und immer thun, was er gebietet!“ – Nun ja, Vater – das will ich auch jetzt. Ich glaube, ich fühle, daß er mir’s gebietet –

Und hier! sagte Volkmar, der ihm das Vuch aus der Hand genommen und mit seinen geschwinden Fingern wieder geblättert hatte. Etwas später; nicht viel. Als Du Marie noch liebtest ... Da lies!

Warum, Vater? – Laß; ich mag nicht –

Nun, so les’ ich! – „Der heutige Tag war schön, aber wieder habe ich ihn für mich hingebracht, nicht für meine Brüder! O wenn doch endlich ein Funke in meine Seele fiele, der zu schaffen gäbe, schaffen will ich!!!“ – Dann ein paar Seiten später: „Auch habe ich Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ wieder gelesen, das mir viel zu denken giebt. – – – Wer Gott hat, ist nie allein, und niemals kann Unglück den beugen, der Gott im wahren Sinne kennt! der Gott vertraut, in ihm das höchste Gut besitzt und sein Gebot erkannt hat: Schmerzen und Leiden sollen Dich läutern und zu Gott erheben aber unglücklich sollst Du nicht sein, um Gottes und der Menschen, Deiner Brüder willen!“ – Für einen Fünfzehnjährigen keine üblen Gedanken, Rudolf. Und dies hier, zwei Seiten weiter, das gehört dazu. „Mein kurzes Gebet, das ich jetzt oft vor mich hinspreche, und mit dem ich alles Schlechte und Gemeine von mir banne, heißt: Mein Gott, ich bin bei Dir!“

Rudolf, der sich gesetzt hatte, wand sich unruhig auf seinem Stuhl. Aber wozu soll ich das hören, Vater, sagte er mit einem Anflug von bitterem Lächeln. Bin ich denn nicht mehr bei Gott? Hab’ ich Gott verlassen? – Wie wenn ich jetzt „Schlechtes und Gemeines“ wollte –

Nein, das nicht. Das wirst Du nie. Aber Unsinniges!

So sagst Du. Und damit gut! – Du weißt, wie hoch ich Dich ehre, Vater – Dich und Deine Gedanken – aber irren kann jeder; Du auch! – „Für meine Brüder schaffen“ – für die Menschheit leben ... Ja, so hab’ ich als Knabe geträumt. Da dacht’ ich noch Wunder, was ich wäre. Wie viele überschätzen sich; ich hab’s auch gethan. Jetzt sag’ ich mir: wer bin ich denn? Wo sind meine großen Geistesgaben, meine Talente, mein hoher Beruf? Ich irre so herum. Was hab’ ich vor den andern voraus? Nichts als etwas höheres Streben – auch wohl mehr wirkliche Menschenliebe ... Die will ich ja auch bewähren, Vater. Nicht an Allen, wie ich in meinem kindlichen Größenwahn dachte, sondern zunächst nur an einem Menschen – aber da auch ganz! mit dem ganzen Herzen!

Ja, ja, sagte Volkmar und nickte, das ist Menschenart. Weil jetzt dieser eine Gedanke Dich hat, so machst Du Dich mit Gewalt kleiner, als Du bist!

Woher weißt Du das? Du weißt so viel – aber für Deinen Sohn bist Du doch wohl auch etwas vaterblind! – Du hast mir immer so hohe Gedanken gegeben, hohe Ziele vor mich hingestellt; dadurch kam’s wohl auch, daß ich eine so hohe Meinung von mir kriegte – und Du, Vater, auch. Weil Du es wünschtest, und weil ich Dir nachsprach, darum glaubtest Du’s ... Aber was in meinem Herzen gut ist, das vergeht ja nicht! Und mit „meinem Gott“ bin ich so einig wie je. Du hast mich zur Freiheit erzogen, wie Du neulich sagtest; daß ich meine eigenen Gedanken, meinen eigenen Sinn haben soll, nach dem innersten Fühlen und Bedürfen leben soll, das in mich gelegt ist. Vater, das thu’ ich ja heut! Wie mein Gott mir’s gebietet! Laß mich doch! Wehr’ mir’s nicht!

Wie er seine Sache zu führen weiß, dachte Volkmar zwischen Bangen und Freude. Die Geistesgaben, die er sich abspricht, fehlen thun sie noch nicht! – Er fühlte aber stärker und stärker, so daß es ihn beklemmte: mit dem werd’ ich durch Worte nicht fertig. Durch Neinsagen auch nicht. Was hat sie ihm angethan? Wie ist ihm das so mitten in das Herz gegangen? Wie ist da zu helfen?

Du antwortest mir schon gar nicht mehr, sagte Rudolf endlich – er war wieder aufgestanden – nach einem langen, schmerzlichen Atemzug. Nur Deine Augenbrauen spielen so – wie ich’s an Dir kenne – so unzufrieden; als verwürfst Du alles, was ich sage. Dann nur noch drei Worte, Vater! Ermüden und belästigen will ich Dich ja nicht. Wenn ich ähnlich bin wie Du – ich, Dein Sohn – das wird Dich doch nicht wundern! Du selber, Du hattest immer Deinen eigenen Sinn; hast von frühen Jahren an ganz nach Deinem Kopf, nach Deiner „inneren Stimme“ gelebt; das weiß ich nicht nur von Dir, auch von Andern. Nun, Dir hat es nicht geschadet, nicht wahr ... Ich hab’s von Dir geerbt. Ich hab’ auch so ein Muß in mir, das dann sagt: ich will! Und wenn ich auch vielleicht weicher bin als Du – aufgeben kann ich das nicht, was in mir so spricht, so laut, – wie mit Gottes Stimme. Ich hatte gedacht, Du, mein Vater, mein Vorbild, Du, von dem ich das erbte, Du wirst mich sogleich verstehn; wirst mit Deiner himmlischen Liebe – – aber Deine Augen bleiben starr und stumm. Gut. Verstoß mich, Vater! Jag mich in die Welt hinaus! Vielleicht bricht mir das Herz dabei, ich weiß es nicht; aber das, was ich –

Ach, Du dummer Junge, unterbrach ihn Volkmar, dem wieder todblassen Jüngling etwas näher tretend. Wie wird Dein Vater das thun; brauch’ nicht solche Worte. Da bist Du wieder der kleine Bub, der, wenn die Mutter oder ich ihm seinen Willen nicht thaten, manchmal trotzig schmollte: „dann will ich weit, weit fort!“ – Damals „zischte“ Dir auch schon das Herz, wie Du’s einmal nanntest, als Du an Deine erste Liebe dachtest; die Dir „in den Kopf gedreht“ hatte, wie Du nach Deiner eigenen Grammatik sagtest. – Kennst Du Deinen Vater noch nicht? Wird Dich der verstoßen?

Was wirst Du denn thun? fragte Rudolf, auf Volkmars verschlossenem Gesicht herumforschend.

Was ich thun werde? – Ich – –

Ein jäher, überraschender Gedanke war in Volkmar aufgestiegen; ein verwegener; aber vielleicht der rechte in so ernstem Fall. Er hielt inne, um ihn geschwind zu betrachten; er legte ihn sich gleichsam auf die Hand, wie eine Goldmünze: ist sie echt? kann man das dafür kaufen, was man haben will? – Ja, dachte er, für ein Herz wie das meines Jungen ist es wohl das Rechte. Für diesen Vater und diesen Sohn!

Ich will Dir sagen, was ich thun werde, nahm er wieder das Wort; hab nur noch einen Augenblick Geduld. Selbstverständlich denk’ ich, daß Du noch nicht den Wahnsinn hattest, Dich mit ihr zu verloben. –

Nein, Vater, warf Rudolf dazwischen. Hieltst Du das für möglich? – Sie sagte mir selbst: „reden Sie nicht mehr!“ Und ich – vor meiner Seele stand’st Du: mit dem Vater reden –

Nun, das hast Du gethan. Und es hat sich gezeigt: wir sind gar nicht einig; so uneinig waren wir noch nie. Es muß aber damit endigen wie immer, daß wir einig werden! – Du hast mich beschuldigt,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_519.jpg&oldid=- (Version vom 3.9.2022)