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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Sturmangriff über, dem die Franzosen trotz tapferer Gegenwehr nicht stand zu halten vermochten. Die Landstraße mit ihren Schützengräben befand sich in unseren Händen, während der Feind in fluchtartigem Rückzug durch die Weinberge seine Hauptposition auf den Höhen des Geisberges zu gewinnen suchte.

Unsere nachdrängenden Schützenzüge wurden in der Verfolgung sehr dadurch behindert, daß die Weinbergpfähle reihenweise oben durch Querstangen verbunden waren, während die Franzosen die Gelegenheit offenbar besser kannten und sich rasch durch vorher gebrochene Lücken und Durchgänge zurückzogen. Eine Zeit lang wechselten wir noch Schüsse mit ihnen, dann waren sie außer dem Bereich unserer Gewehre und verschwanden mit unbegreiflicher Geschwindigkeit. Ich hatte gerade zu meinem großen Aerger die unangenehme Entdeckung gemacht, daß mein Zug in diesem heimtückischen Weinberg gänzlich auseinander gekommen war, als mir der Feldwebel zurief, daß er einen Durchgang gefunden habe. Schleunigst rief ich von meinen Leuten herbei, was sich gerade in der Nähe befand – es waren allerdings wenig mehr als ein Dutzend Mann – und gemeinsam mit Schmidt führte ich sie in voller Hast vorwärts.

Mehrere hundert Schritt waren wir fast im Laufschritt dem ansteigenden Weg gefolgt, als wir plötzlich am Rand einer schmalen, grasbewachsenen Mulde standen, die sich nach dem Geisberg hinüberzog. Mir war sofort klar, daß diese günstige Bodenfalte unseren Gegnern die beste Gelegenheit geboten, sich schnell und unbemerkt rückwärts zu konzentrieren, denn unmittelbar vor uns befand sich ein Trupp von mindestens 60 französischen Infanteristen in beschleunigtem Rückzug. Einen Augenblick stutzten sie bei unserem unerwarteten Erscheinen, dann aber gingen sie sofort zum Angriff über, dessen Ausgang bei unserer bedeutenden Minderheit kaum zweifelhaft sein konnte. Von beiden Seiten knallten Schüsse – zwei meiner Leute fielen und ich wurde an der linken Hand verwundet – en avant! à l’attaqne! feuerte ein alter Sergeantmajor seine Kameraden an und mit aufgepflanztem Yatagan stürzten sie sich auf uns. Jetzt kam uns zu statten, was uns vorher beim Avancieren so sehr hinderlich war, denn die miteinander verbundenen Weinbergpfähle machten es den Franzosen schwierig, uns zu umzingeln, so daß wir dem ersten Anprall stand zu halten vermochten. Ein wilder Kampf entspann sich an dem schmalen Weinbergzugang, den unser kleines Häuflein besetzt hielt – ein Kampf mit der blanken Waffe, Mann gegen Mann. Die Erbitterung auf beiden Seiten hatte den Höhepunkt erreicht. Wir wehrten uns wie die Verzweifelten, doch konnte es nur noch Sekunden dauern, bis wir der Uebermacht unterliegen mußten. In diesem Augenblick krachte aus nächster Nähe eine kleine aber wohlgezielte Salve den Franzosen so wirksam in die Flanke, daß sie sich nach dem neuen Gegner umsahen, allerdings nur einen Augenblick lang, aber dieser war entscheidend. Blitzschnell hatte ich den Revolver herausgerissen und den Sergeantmajor, unseren entschlossensten Feind, zusammengeschossen, während der Feldwebel einen anderen niederstach. Eine zweite Salve folgte und unmittelbar danach brach in der Mulde eine meinem Häuflein nicht sehr überlegene Abteilung meines Zuges mit lautem Hurra auf die Ueberraschten ein, und als nun auch unser Hurra erscholl, da warfen die Franzosen die Gewehre weg und baten mit aufgehobenen Händen um Pardon.

Der Führer der kleinen Abteilung, die so zur rechten Zeit eingegriffen hatte, war mein Flügelunteroffizier, Sergeant Brückner, dessen Umsicht und Tüchtigkeit mir so wohl bekannt waren, daß ich mich nicht über sein geschicktes Vorgehen wunderte. Trotzdem wollte ich ihm meine Zufriedenheit aussprechen, war aber sehr erstaunt, als er mich unterbrach: „Daran bin ich wirklich ganz unschuldig, Herr Lieutenant; das hat alles unser Schulmeister, der Gefreite Tilmanns, veranstaltet!“

„Waas? Der Gefreite Tilmanns? Der Dr ....“ Der Feldwebel sprach den Schmeichelnamen nicht aus, so maßlos war seine Ueberraschung.

„Jawohl, Herr Feldwebel. Er hat den Schleichweg der Franzosen ausgekundschaftet und mich gebeten, mich ihm mit ein paar Mann anzuschließen. Ich hatte weiter nichts zu thun, als die alten Herren da zu sammeln, die nicht so rasch hatten nachkommen können, und hinter ihm herzumarschieren. Und weil der Weg wirklich so hübsch bequem war, sind wir eben auch zur rechten Zeit oben gewesen. Der Tilmanns hat auch gewußt, daß der Herr Lieutenant und der Herr Feldwebel mit den anderen hier herüber sind und daß sie hier mit den Rothosen zusammentreffen mußten, und da haben wir uns denn tüchtig geeilt, damit wir nicht zu spät zum Rendezvous kamen.“

„Tilmanns, erzählen!“ rief ich diesem nun zu, und mit kurzen Worten berichtete dieser, wie er unten in den Weinbergen beinahe zum zweitenmal ohnmächtig geworden wäre und sich auf einen Grenzstein hätte setzen müssen, von wo aus er ganz in seiner Nähe einige der rothosigen Herren sehr rasch und fast ganz gedeckt zwischen den Weinbergen hätte Hinschlüpfen sehen. Dadurch hätte er eine ähnliche Mulde wie wir entdeckt, die sich hier oben mit der unsrigen vereinigen mußte, und als er uns so schnell nach jener Richtung vorgehen sah, hatte er den Sergeanten und die von diesem gesammelten Leute, meistens meinen „Unausgebildeten“ angehörig, schleunigst dorthin geführt.

„Das haben Sie brav gemacht, Tilmanns,“ sagte ich, als er geendet hatte. „Aber jetzt können Sie sich auch ’mal nach einer anderen Richtung hin auszeichnen. Geben Sie mir ’mal Ihre stets gefüllte Feldflasche; ich falle fast um vor Durst!“

„Das thut mir sehr leid, Herr Lieutenant, aber es ist kein Tropfen mehr darin!“ erwiderte er errötend. „Wie es mir da drunten zum zweitenmal grün und schwarz vor den Augen werden wollte, da habe ich die ganze Flasche auf einen Zug ausgetrunken; das hat geholfen!“

„Na, na,“ meinte der Feldwebel, der bisher mit stummem Kopfschütteln zugehört hatte, „die ganze Flasche auf einen Zug? Werden denn das … Ihre Beine vertragen können?“ Es lag aber diesmal keine ironische Betonung auf seinen Worten.

„Hoffentlich halten sie noch aus, bis wir den Sieg sicher haben,“ war die einfache Antwort.

Und sie hielten aus, bis der Geisberg erobert, die feindliche Armee in voller Flucht war und bis „Das Ganze – Halt!“ am Nachmittage nach zwei Uhr unserem ersten Schlachttage ein Ende machte.

Als ich nach eingebrochener Dunkelheit vom Verbandplatze wieder bei der Compagnie eintraf, fand ich den Gefreiten in tiefem Schlaf auf einem Bund Stroh liegen und in seiner Nähe saß Schmidt auf einem Holzblock, seine Pfeife rauchend und den Schlafenden mit einem eigentümlichen Gemisch von Zärtlichkeit, Staunen und Aerger betrachtend. Als er mich kommen sah, ging er mir entgegen und sagte: „Der arme Junge! Ich habe drunten in Riedselz eine Ochsenzunge und ein paar Brötchen ergattert; davon hat er essen müssen. Und eine ganze Flasche Wein hat er dazu getrunken!“ Damit deutete er auf zwei leere Weinflaschen, die neben dem Strohbund lagen.

„Und die andere?“ fragte ich lächelnd.

„Eine er und eine ich! Ich glaube wirklich, er wird noch einmal mit der Zeit ein ganz braver Soldat!“

„Das ist er schon heute, Feldwebel. Verdanken wir ihm doch beide sozusagen unser Leben!“

Daß unsere heute gewonnene Ansicht über den Gefreiten Tilmanns die richtige war, bewies er bereits zwei Tage später in der blutigen Schlacht von Wörth, die unserem Regiment so schwere Verluste brachte, wie sie wohl kaum ein anderer Truppenteil während des Feldzuges an einem Tage erlitten hat. Allerdings verlor ich Tilmanns bereits am frühen Morgen des 6. August aus den Augen, doch wußte mir der Feldwebel, in dessen Nähe er während der ganzen Schlacht geblieben, nicht genug Rühmliches über ihn zu erzählen. Wir hatten auf Vorposten gelegen, als wir von den Franzosen schon gegen halb acht Uhr überraschend angegriffen wurden. Wir hatten die Angreifer in den Niederwald zurückgetrieben, waren jedoch in dem nun folgenden, stundenlang andauernden, äußerst hartnäckigen und verlustreichen Waldgefecht gegen die Turkos, jene wilden afrikanischen Horden des zweiten Kaiserreichs, auseinander gekommen. Den ganzen Tag über hatten wir mit Mannschaften der verschiedensten Regimenter, wie sie der Zufall gerade zusammengeführt, in treuer Waffenbrüderschaft Schulter an Schulter gekämpft, so daß wir erst spät abends, teilweise auch erst am nächsten Tage unsere Versprengten wieder sammeln und unsere furchtbaren Verluste feststellen konnten. Da erfuhr ich denn vom Feldwebel, wie Tilmanns den tödlich verwundeten Premier auf seinen Mantel gebettet, ihn mit Hilfe von Schmidt und zwei Musketieren aus dem Wald und unter dem furchtbarsten feindlichen Feuer über eine freie Wiese in Sicherheit gebracht hatte. Ich hörte, wie er sich an diesem und jenem gefährlichen Punkte vorzüglich benommen, kurz wie er sich derart

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_530.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2022)