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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Zuckersüß! spottete Toni, die Augen wie eine Verzückte zusammendrückend. – Nein, wie bist Du komisch. So einen dummen Bengel lieben. Ich kann nur Eine lieben: Thea, die Himmlische!

Ach, mein Kind, das sagst Du wohl. Wenn dann erst die Jahre kommen, wo Du heiraten kannst –

Heiraten? Ich heirat’ nie!

Das weißt Du jetzt schon? und so gewiß?

Ja, das weiß – –

Toni unterbrach sich. Sie dachte ein Weilchen nach, ihren braunen Zopf zwischen die Lippen nehmend. Einen könnt’ ich heiraten, sagte sie dann in tiefem Ernst.

So? Wer wär’ denn das?

Herr von Fellenberg. Weil der mit Thea so gut ist. Dann könnt’ ich mit Thea oft zusammen sein; o Gott! jeden Tag!

Helene verzog ihr Gesicht, um zu lächeln; – auf einmal aber stand es still.

Der Gesang unter ihnen hatte aufgehört, dagegen kam jetzt ein Schrei herauf, ein unbegreiflicher, schrecklicher, der ihr über den Rücken lief. Toni fuhr zusammen. Sie sahen einander an, beide blaß geworden.

Was war das? stammelte Toni. War das Rudolfs Stimme?

Wer denn sonst? flüsterte Helene und horchte. Der Schrei wiederholte sich nicht; es war tiefe Stille. Aber der schauerliche Ton – wie bei einer furchtbaren Ueberraschung – klang ihr noch im Ohr.

Sie stand langsam auf, als müsse sie fort, als müsse sie hinunter. Die Feder fiel ihr aus der Hand und rollte über den Tisch.

Da! flüsterte Toni und zuckte wieder. Unter ihnen gab es einen dumpfen Schlag, als stürze etwas Hartes hin. Ein noch dumpferes, schwächeres Geräusch folgte hinterdrein. Sie blickten sich, über den Tisch hinüber, wieder in die Augen; es überlief sie, diese jungen Kinder, daß sie aus einem gedichteten Drama so auf einmal in dramatische Wirklichkeit gerieten.

Beide sagten nichts. Plötzlich ging Helene stumm zur Thür. Sie öffnete, lief über den Vorplatz und die Treppe hinunter. Toni lief ihr nach.

Sie kamen bis an Rudolfs Thür; dort blieben sie stehen, eng aneinander gedrückt, und horchten wieder. Es rührte sich aber nichts. Es war unheimlich still.

Toni legte ihre blasse Hand auf den Thürdrücker; sie wagte aber weder zu öffnen noch zu klopfen. Was thun wir? flüsterte sie endlich, nur so mit den Lippen.

Statt zu antworten, blickte Helene jetzt mit erschreckendem Gesicht nach der andern Seite. Dort öffnete Volkmar die Thür, die aus seinem Speisezimmer auf den langen Vorplatz führte. Er sah vor sich nieder, mit scheinbar sehr ernstem Gesicht. Langsam ging er dann, wie auf Rudolfs Zimmer zu.

Im nächsten Augenblick huschten die Backfische, wie aufgeschreckte Feldhühner, über die Diele weg und ihre Treppe hinauf. Ohne zurückzuschauen, rannten sie, bis sie oben waren, und in ihren „Musentempel“ zurück. Dort warf sich Toni sogleich in ihren einzigen Lehnstuhl, der am Fenster stand. Sie legte sich eine Hand aufs Herz; es schlug gar so heftig. Du! sagte sie, ohne Stimme. Helene! Was ist denn geschehen?

Ich weiß es nicht, antwortete Helene, die bleich wie eine junge tragische Heldin mitten im Zimmer stand. Woher soll ich’s wissen?

Ich kann nicht mehr! stieß Toni hervor. Ich kann nicht mehr dichten!


9.

Steh’ doch auf! sagte Volkmar zu Rudolf, der neben einem niedergestürzten Stuhl auf dem Boden lag. Mein geliebter Junge! Ich dachte Dir’s leichter zu machen – und vielleicht auch mir - wenn ich Dir die erste Mitteilung von diesem sonderbaren Schicksal schriftlich zugehen ließe. Dann erst wollt’ ich selbst – – Aber es scheint, mein kurzer Brief hat wie eine Art von Blitz gewirkt. Da liegt er – und Du auch!

Verzeih’, sagte Rudolf tonlos, mechanisch, und erhob sich; darauf starrte er den Vater an, mit völlig verstörtem Gesicht. Ich weiß nicht, wie mir das geschehen ist ... Diese theatralischen Hinwerfungen sind mir so zuwider ... Aber als ich das las –

Vater! rief er, es schüttelte ihn plötzlich. Es ist ja unmöglich. Du und Thea! Es ist nicht zu fassen!

Ich begreife, daß Du so sprichst, erwiderte Volkmar nickend. Wer von uns hätte das vor einer Woche gedacht! – – Was wollt’ ich denn, Rudolf, als das Mädchen besser verstehen lernen, das ich allerdings viel zu wenig kannte. Ich dachte nur an Dich; that’s ja nur um Dich! – So ging ich hin; – sie gefiel mir gleich. Ich kam immer wieder – Du wirst’s wohl bemerkt haben –

O ja, murmelte Rudolf, noch bis zur Versteinerung fassungslos, mit erstarrtem Blick. Und es freute mich ... Vater! – Du! Du, mein Vater!

Warum wunderst Du Dich gar so sehr, daß die auch dem Vater Eindruck macht, die dem Sohn gefällt. Ist’s nicht eher natürlich? Sind wir nicht ein Blut? – Es ist mir nur gar so hart, so vor Dir zu stehn; daß meinem geliebtesten Menschen das ins Herz greifen muß, was mich glücklich macht. Bedenk’ aber auch, wie verschieden unsre Rechnung steht! Wenn Du mir Thea opferst, was verlierst Du dann? Einen Jugenbtraum, den Dir das Leben noch zehnmal wiedergeben kann. Wenn ich sie gewinne, so gewinn’ ich ein letztes, ungeahntes, nie wiederkehrendes Glück. Und gewinnst Du nicht auch? Das Gefühl, nach dem Du Dich so oft gesehnt hast, mir all’ Deine Liebe zu zeigen und mich zu beglücken?

Vater, sagte Rubolf, eine Hand an der Stirn, auf den Augen, – ich versteh’ Dich nicht. All Deine Worte schwirren mir im Kopf. Ja, ich versteh’ sie wohl – ich weiß, was sie bedeuten – aber ich fasse sie nicht. O mein Gott, wie gern, wie gern würd’ ich Dich glücklich machen ... Aber so. Ich fass’ es nicht. Es schüttelt mich. Ich weiß nicht, um wen schmerzt es mich, um mich oder um Dich? Wie ein Wirbel ... Mein Vater und Thea!

Volkmars Brauen und Lippen zogen sich ein wenig hinauf, wie zu einem Lächeln. Guter Rudolf! antwortete er, nun muß ich Dir sagen: ich versteh’ Dich nicht. Sie ist Dir etwas so Großes, die Thea; Du willst ihr Dein Leben, Deine Zukunft opfern; warum ist Dir denn so unfaßbar, daß auch ich es will? – Meiner Jahre wegen? Ich bin ein Fünfziger, ja; aber jünger, nicht wahr, als sonst die Fünfziger sind. Hier am Kinn wird’s grau; aber da oben ist noch alles braun und jung – und so auch die Gedanken, die darunter wohnen. Wenn wir in der Schweiz auf Berge klettern, wer von uns hält länger aus? Auf den schwedischen Felseninseln bei Gothenburg, auf Bratten, hinter Longedrag, wenn wir da von Stein zu Stein sprangen, stundenlang an jedem grünen Fleck vorbei, – sprangst Du besser als ich? – Auf den Spazierstock, den Du mir schenktest, hast Du eingraben lassen: „Der alte Junge seinem jungen Alten“. Nun, so macht wohl der junge Alte noch einen Jugendstreich –

Aber, Vater! rief Rudolf aus. Nicht daß Du – – Aber Thea! Thea!

„Freilich: sie ist sehr viel jünger. Aber Künstlerinnen – die leben wie in Kriegsjahren weißt Du, und darum doppelt geschwind. Und dann kennst Du ja diese Thea: wieviel Großes noch in ihr steckt, das nur freigemacht, nur entwickelt sein will. Dafür will ich ja leben, Rubolf. So werden wir uns entgegenwachsen. Wenn Du mir nur sagen kannst – wie ich Dir in dem Brief da schrieb –: „Dir opfre ich sie, Dir geb’ ich sie, werd’ Du ihr Erretter!“

Rudolfs Augen starrten nicht mehr auf den Vater, sie irrten im Zimmer umher; er schüttelte auch leise, aber immer wieder, den Kopf, als verwirre ihn ein unsinniger Traum. Thea! Thea! wiederholte er. Du sprichst von Theas Jugend ... Nein, so meint’ ich’s nicht. Sondern alles, was –

Er scheute sich offenbar vor irgend einem Wort; er brach ab. Mit einer kraftlosen Handbewegung nach des Vaters Brief, der noch am Boden lag, brachte er mühsam heraus: Du schreibst mir da, sie hat Dein Herz gewonnen. Es geht mir nicht in den Kopf ... Liebst Du sie denn wirklich?

Stünd’ ich sonst so vor Dir?

Nein – natürlich nicht. – Ich bin dumm. Wie mit einer Keule vor die Stirn – – Und sie liebt Dich? Thea?

Das sag’ ich nicht; das weiß ich noch nicht. Ich hab’ nur das Gefühl, daß – – daß sie sich nicht besinnen würde, wenn ich ihr meine Hand anböte. Zu ihr davon zu sprechen, eh’ ich mit Dir gesprochen, daran dacht’ ich doch nicht!

Jetzt brach es endlich aus Rudolf hervor. Vater! Aber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_535.jpg&oldid=- (Version vom 3.9.2022)