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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Als Deutsche in Paris.

Erinnerungen aus dem Kriegsjahr.
Von Klara Biller.


Es sind bereits fünfundzwanzig Jahre her, und doch steht noch lebendig der seltsame Augenblick vor mir, in dem ich erfuhr, daß der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland erklärt sei.

Ich befand mich damals in dem jetzt oft genannten Tanger, an der Nordküste von Afrika. Um übrigens dem Verdacht der Europamüdigkeit zu begegnen, in den man leicht gerät, wenn man sich während der Sommerhitze nach Afrika begiebt, will ich voranschicken, daß ich vor dem Typhus geflohen war. In Cadiz, wo ich mich in Familienangelegenheiten aufhielt, war er ausgebrochen, und der Arzt hatte mich bei einem Fieberanfall sogleich nach der gegenüberliegenden, ihres gesunden Klimas wegen bekannten Hafenstadt geschickt. Seit etwa sechs Wochen war ich dort; die Rückkehr nach Cadiz schien immer noch nicht ratsam.

Unter den wenigen Familien, mit denen ich in Tanger verkehrte, war die eines Arztes, Doktor Migueres, der mit seiner Frau und Schwiegermutter hier angesiedelt war – sämtlich Südfranzosen. Er – intelligent, voll Sprühfeuer; sie noch ziemlich jung, mit großen, traurigen Augen, die um den Verlust eines einzigen Kindes klagten. Ihre Mutter, wenig zugänglich, außer wenn sie von ihrem Sohne sprach, dem „talentvollsten Kadetten von St. Cyr.“

Es war am Nachmittag des 20. Juli, als ich neben Frau Migueres am Klavier saß; es schien ihr lieb, jemand gefunden zu haben, mit dem sie zuweilen vierhändig spielen konnte. Wir waren gerade in die Egmontouverture vertieft, als die Thür hinter uns aufgerissen wurde und ihr Mann eintrat. Er war in großer Aufregung und konnte kaum sprechen. Endlich, nachdem er sich gerade vor nach hingestellt und ein paarmal heftig geatmet hatte, rief er ganz unvermittelt:

„Wissen Sie auch, daß wir Feinde geworden sind?“

Ich war ganz starr vor Schreck, denn ich dachte, er hätte plötzlich den Verstand verloren; der Tag war heiß genug für einen Sonnenstich. Die arme Frau fürchtete jedenfalls dasselbe, denn sie stöhnte einmal über das andere. „O Gott – Charles, Du weißt ja gar nicht, was Du sprichst!“

Aber er wußte es nur zu gut!

„Es giebt Krieg!“ erklärte er. „Frankreich hat Ihnen (ich verkörperte ihm Deutschland) den Krieg schon am 15. Juli erklärt, aber der Draht reicht nicht bis an unser elendes Nest, so ist die Nachricht eben erst von Lissabon herübergelangt.“

Ich fiel wie aus den Wolken. Kaum vier Wochen hatte ich Europa aus den Augen gelassen, denn in Tanger las ich keine Zeitung, und da überraschte es mich nun plötzlich mit einer Kriegserklärung!

Frau Migueres, die für ihren Mann schwärmte, nahm den Krieg leichter als das, was sie vorher gefürchtet hatte. Nur ihre Mutter, die bei den lauten Worten des Doktors in die Thür getreten war, rang die Hände im Gedanken an den talentvollen Kadetten, dessen Zeit in St. Cyr beinahe um war, und der vermutlich eingezogen wurde. Migueres aber kam vom französischen Konsulat und warf zu unserer Belehrung den spanischen Thron und den Prinzen von Hohenzollern, den König von Preußen und seine Zusammenkunft in Ems mit Benedetti geläufig durcheinander.

„Ach, der entsetzliche Krieg!“ jammerte die Schwiegermutter, „und was wird erst das Ende sein!“

„Das Ende?“ schrie der Doktor mit einem triumphierenden Blick nach mir, „das kann ich Euch heute schon voraussagen. – Ist keine Karte da?“

Sie war verlegt. Das Bildungsmaterial schien überhaupt etwas mangelhaft im Hause – dafür befanden wir uns in Afrika. Er mußte mit einem Eisenbahnnetz von Mitteleuropa vorlieb nehmen, das er sogleich vor sich ausbreitete. Drauf zog er einen Bleistift aus der Tasche und rückte die „zukünftige Grenze Frankreichs“ so tief in unser Land hinein, daß ich, als Vertreter Deutschlands, mir das unmöglich gefallen lassen konnte. Ein lebhaftes Wortgefecht um den Besitz des Rheins war die Folge. Er hielt ihn fest, mit seiner Bleistiftlinie wenigstens. Beide saßen wir bald mit heißen Köpfen da und schossen wütende Blicke aufeinander.

„Da haben wir ja schon den Krieg!“ seufzte die Doktorin und setzte eine Schüssel mit frischen Feigen auf den Tisch, uns den Mund zu stopfen. Sie ruhte auch nicht eher, bis wir Frieden schlossen und uns zur Versöhnung sogar die Hände schüttelten. Der Gebietsabtretung wurde dabei nicht weiter erwähnt; jeder dachte das Seine darüber.

Mit dem Musizieren war’s natürlich vorbei. Dagegen wurde beschlossen, daß Doktor Migueres mich bis zu dem ziemlich entfernten Hause des belgischen Konsuls begleiten sollte. Wir Deutsche besaßen damals noch keinen eigenen Vertreter in Marokko; meine spanischen Verwandten hatten mich deshalb an den belgischen empfohlen, der ihnen bekannt war und mir durch seine Erfahrung auch bereits gute Dienste geleistet hatte. Die Kriegsnachricht hatte plötzlich eine unbezwingliche Sehnsucht nach den Meinen in mir geweckt und der Konsul sollte mir Rat wegen der Reise geben.

Beinahe hätten wir zwei eben erst versöhnte Feinde unterwegs wieder Streit bekommen, als wir auf ein paar Negerjungen stießen, die miteinander kämpften. – „Nehmen wir an,“ reizte mich der Doktor, „der da sei Napoleon (er hatte sich natürlich den Stärksten gewählt), der andere Ihr König von Preußen – wir wollen doch sehen, wer die Schlacht gewinnt!“

Ich antwortete nicht, sondern ging nur schneller, um mir die herrliche Gegend, die ich vielleicht zum letztenmal sah, durch seine Kriegsgelüste nicht verderben zu lassen. Von dem Hügel, auf dem wir standen, blickte man herab auf die Stadt, die sich terrassenförmig nach dem Meere senkte. Hier oben gab’s das beste Trinkwasser, was in Tanger soviel bedeutet wie in München Hofbräu. Drum traf man gegen Abend auch die Männer und Jünglinge von Tanger-nueva in einem Halbkreis hier am Boden sitzend, während meist ein Improvisator im weiten Burnus, lebhaft gestikulierend, in der Mitte stand. Zuweilen hob bei ihren Beifallsstürmen ein neugieriges Kamel der Herde den langen, krummen Hals und stieß jenen schrillen Schrei aus, der keinem Schrei eines anderen Tieres gleicht. Ernste Frauen, deren weiße Umhüllung nur die schwarzen Augen sehen ließ, schöpften daneben Wasser am Brunnen und stiegen, den antiken Krug auf dem Kopf, dann langsam zur Stadt nieder.

Am Strand, den wir passieren mußten, trafen wir die französischen Maler Henri Regnault und Clairin, die auf ihren kleinen Pferden dahinflogen. Mit Regnault sollte ich tags darauf bei einem gemeinschaftlichen Bekannten frühstücken. Am nächsten Tag! da war er bereits „zu Schiff nach Frankreich“, um die Palette mit der Flinte zu tauschen. Vor Paris hat der Tausch dem Armen das Leben gekostet.

Des Belgiers kleines Palais glich einem Museum, er besaß eine reichhaltige Sammlung orientalischer Waffen und Thongefäße. Am selben Morgen hatte eine Karawane ihm eine neue Sendung gebracht – mitten ins Auspacken hatte die Kriegsnachricht getroffen. Da saß nun der gemütliche alte Herr zum erstenmal teilnahmlos neben seinen Schätzen und durchflog die frisch eingelaufenen Briefe und Zeitungen.

„Sie sind doch bei dem Kriege nicht beteiligt!“ rief ich etwas geringschätzig, als er mit einem ellenlangen Gesicht meinen Gruß erwiderte. Denn ich kam mir als Mitglied eines Staats, der mit einem anderen Krieg führt, plötzlich viel wichtiger geworden vor. Denke ich jetzt daran, scheint mir das sehr lächerlich, aber ich erinnere mich genau, so empfunden zu haben.

„Sie vergessen, daß ich als Belgier sogar sehr nahe bei der Sache beteiligt bin,“ meinte er. Auch ihm schwebte als Resultat des Krieges eine Veränderung der Gremzen vor, nur war er auf eine Besitzerweiterung seines Landes nicht so gefaßt wie Migueres.

Ich legte ihm meinen Fall vor und setzte ihm auseinander, daß ich über Paris zurückreisen wollte, weil der Mietskontrakt für mein dortiges Maleratelier noch nicht abgelaufen sei, sich auch der größte Teil meiner Sachen in demselben befände.

Da riet er, sobald als möglich zu reisen, weil, nachdem die Feindseligkeiten erst begonnen, die deutsch-französische Grenze schwer zu passieren sein werde. Ein Diener wurde sogleich nach dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_539.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2023)