Seite:Die Gartenlaube (1895) 550.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

ging, Noch am späten Abend schlenderte Volkmar auf wenige Minuten zum Hafen hinunter: er sehnte sich, das Wasser wieder rauschen und rieseln zu hören, und es war ihm wie eine Art Musik, wenn die kleinen Wellen der Fahrrinne in der dunklen Nacht an den zertrümmerten Schollen spielten. Dazu zauberte ihm der schwüle Wind schon Frühlingsträume ins Herz; freilich sehr verfrühte: man schrieb erst den sechzehnten Februar. In drei Tagen der neunzehnte, ein Entscheidungstag: das mündliche Examen …

Volkmar ging nach Hause zurück; Rudolf war nicht dort, auch beim Abendessen hatte er gefehlt: einige Freunde hatten ihn zu einem kleinen „Gelage mit Hausschlüssel“ abgeholt. Der vereinsamte Vater las lange in seinem Zimmer, die Schwester war zu Bett gegangen; endlich, da es zwölf geschlagen hatte, die Gedanken ihm aber noch keine Ruhe ließen, so that er, was ihm zuweilen ein eigenes Wohlgefühl, einen träumerischen, wechselnden Doppelzustand gab: er versenkte sich in einen Lehnstuhl, schloß die halbmüden Augen und ließ die Bilder, die Gefühle in seinem Hirn ziehen, wie sie wollten. Von Zeit zu Zeit schlief er darüber ein, ohne es zu merken; bald wieder erwacht, genoß er noch das Nachgefühl des von irgend einem Traum umgaukelten Schlafs, und lag doch auch so recht wie im Schooße des Lebens da. Draußen sang der Wind an den Fenstern, und spielte auf seinen Drehorgeln, den Wetterfahnen. Die geöffneten Augen sogen das milde, gelbe Licht der Hängelampe ein, als gehe von dieser kleinen Sonne das Leben aus, das den Körper so wohlig wärmte. Dann sanken sie wieder zu, und die Gedanken flossen langsam, wie Schifflein auf einem Strom, in den Schlaf hinab.

So war er von neuem eingenickt; plötzlich erwachte er und rührte sich, wie von irgend etwas aufgeschreckt. Er saß aufrecht und horchte. Nebenan im Speisezimmer stieß, wie es schien, ein Stuhl gegen den großen Tisch. Gleich darauf klirrte etwas; auf der Kredenz oder irgendwo. Wer ist da? rief Volkmar. Er wartete einige Augenblicke; es kam keine Antwort.

Geschwind war er an der Thür, öffnete sie und trat hinein. Im Speisezimmer war tiefes Dunkel. Wer ist da? fragte er wieder.

Verzeih, Vater, antwortete eine bekannte Stimme, aber jetzt mit schwerer Zunge. Ich bin’s! – Ich hatte nur sehen wollen, ob Du noch auf bist – und durch Dein Schlüsselloch sah ich Licht –

Junge, was hast Du? fragte Volkmar. Du sprichst ja, wie wenn –

Ja, es ist auch so, sagte Rudolf. Ich hab’ etwas zu viel – – Aber das thut nichts, Vater: es war für einen guten Zweck! O, wenn ich Dir erst sage – – Mir wird übrigens nur das Sprechen schwer; der Geist ist ganz klar. Es war eine heftige Kneiperei; dieser Fellenberg – –

Vater! rief er mit einem neuen Anlauf. Kann ich Dich noch sprechen?

Komm nur herein, sagte Volkmar. Rudolf stand noch immer an der Kredenz, an sie angelehnt. Mit etwas unsicherem Gang trat er in des Vaters Arbeitszimmer ein; in der offenen Thür blieb er stehen, als fühle er sich dort am Pfosten in erwünschtem Schutz. Das Licht der Hängelampe beschien sein sonderbar lächelndes, an den Wangen gerötetes Gesicht; die Haare wirrten sich zum Teil in die Stirn hinein; die Augen, auf den Vater geheftet, suchten ihn offenbar innig anzublicken, es lag aber eine gedunsene Röte wie ein Hindernis um sie her. Nur nicht erschrecken, lieber Vater, sagte er und blies den hörbar eingesogenen Atem durch die Lippen fort. Ich bin wohl kein angenehmer Anblick … Anders ging es nicht!

Setz’ Dich doch, sagte Volkmar. Du stehst da nicht gut. Setz’ Dich in den Lehnstuhl.

Ich danke Dir; ja, das will ich thun. – Mit einigen entschlossenen Schritten kam er zu dem Armstuhl hinüber und sank auch schon hinein. – Wie bist Du gut – zu so einem Sohn!

Es war ja für einen „guten Zweck“, wie Du sagst. Wo warst Du denn? Wo kommst Du her? Wenn Du sprechen kannst, dann sprich!

O ja, Vater, es wird wohl gehn. – Grade eine Woche ... Ich meine, eine volle Woche hat’s gedauert, bis ich so weit kam. Die ganze Woche, die Du mir auf meinen Brief zugestanden hattest – sie ging schon zu Ende – ich verlor die Wut. Nein – ich verlor die Geduld und ich kam in Wut! – Bitte, ärgere Dich nicht an meinem benebelten Kopf; und an meinem Sprechen –

Nein, ich ärgere mich nicht, sagte Volkmar, der nun statt Rudolfs am Thürpfosten stand. Laß Dir Zeit. Also Fellenberg –?

Wie kommst Du auf Fellenberg? fragte Rudolf.

Du nanntest ja schon seinen Namen. Was war’s denn mit ihm?

Lieber Vater! Das war der Gedanke – der ersehnte Gedanke – der mir nach dem Lichtausblasen kam: häng’ Dich an Fellenberg! – Ich hatt’ ihn schon beim Schlittschuhlaufen flüchtig kennen gelernt; – er läuft nicht besonders. Nun fing ich an, in die Kneipe zu gehen, wo er Billard spielt – und am Abend in seine Weinstube – – ein paar Abende, weißt Du, war ich nicht zu Hause; „bei Freunden“, sagte ich Dir – es war nicht gelogen: er nannte mich schon seinen Freund. Ich gefiel ihm – ich grüner Junge … Aber immer waren andere da – und – – Was wollte ich sagen. Ja, es waren immer auch Andere da; von dem, was mir auf der Zunge lag, konnte ich nicht sprechen – oder ich mochte nicht! ich bracht’s nicht heraus! Und die ganze Woche ging hin – und ich ging so um Dich herum, wußte nie, was ich sagen sollte – wußte kaum mehr recht, was ich fühlte, was ich dachte – – es war eine unsinnige Zeit!

Auch für mich, mein Rudolf –

Ja, wohl auch für Dich. O gewiß, natürlich auch für Dich! – Aber endlich heute Abend – –! O Vater!

Er stand auf, seine Gefühle rissen ihn empor. Eine Welt von Innigkeit wollte aus seinen Augen heraus; sie lag aber wie hinter einer Wolke, in dem trüben, schwimmenden Blick. Es war rührend lächerlich anzusehn; dem Vater zuckte es um den Mund, aber auch im Herzen. Schweigend trat er dann auf Rudolf zu und drückte ihn sanft in den Lehnstuhl zurück. Bleib’ nur, wo Du warst, mein Junge! Denken, sprechen und stehen wäre zu viel für Dich. Also heute Abend … Sag’ weiter. Ich ahne noch nicht, was es ist!

Ahnst Du es noch. nicht? fragte Rudolf treuherzig. Vater – diese Thea! Ich wollte ja wissen – um Deinetwillen – was die Wahrheit ist! Und als nun heut, am letzten Tag, meine Schulkameraden kamen, mich zu einem Fäßchen Münchener Augustiner zu holen, da wütete ich inwendig; wie ein Gefangener ging ich mit; meine einzige Hoffnung war: ich brenn’ ihnen durch! – Das that ich auch, nach einer Stunde. Länger hielt ich’s nicht aus. Ich erfand mir Kopfschmerzen – was sollt’ ich sonst machen, Vater – und ging „in die Luft“. Dann stürmt’ ich zu Fellenberg; ich wußte, wo er war. Im Ratskeller – ganz allein. Endlich ganz allein! Aber bei einem schweren Wein – – offenbar für mich zu schwer. Ich kann ja was vertragen, Vater; aber gegen ihn bin ich nichts. Und er trank so viel. Und ich mußte immer mit. Darum sitz’ ich nun so miserabel da. Ein trostloser Anblick. Ein „verlorener Sohn“!

Das thut nichts, sagte Volkmar ruhig. Erzähl’ nur zu Ende!

Ja; – ich dank’ Dir, Vater. Es war ja mein Glück, daß er so viel trank! Nun wurd’ er gemütlich, gesprächig – und zu mir fast zärtlich – – und ich kam auf Thea. – O Gott! Als ihm die Zunge gelöst war, was hat er erzählt! Von den Zeiten, in denen er auf andere eifersüchtig war; und von den Zeiten, in denen er das aufgegeben hatte; und von der Wette unter ihren guten Freunden, mit wem sie durchgehen wird. Und als ich hinwarf, sie werde ja wohl heiraten, ich hätte so was gehört – wie hat er gelacht! – „Aber wer heiratet so was, lieber grüner Junge!“ – Und dann wieder, in sein Glas guckend: „Es steht ihr aber alles so gut. Auch wenn sie zuweilen sentimental, melancholisch wird; dann plötzlich wieder ausgelassen wie ein Zigeunermädel; – immer aber schick. Graziös. Um die ist’s eigentlich Schade … Das heißt, warum Schade: sie erfüllt ihren Beruf!“ – – O Vater! Wie hab’ ich dagesessen. Wie hat nur das Herz gezuckt. Wie hab’ ich mich geschämt. So eine hab’ ich so geliebt! – Aber glaub’ mir, das ist mir nun wie vor hundert Jahren. Ich bin hier so frei – so frei. Und in allem Elend, in aller Scham freute ich mich doch fort und fort: „Das leid’ ich für meinen Vater. Es thut nichts! Wenn ich nur erst zu ihm komme – dann wird alles gut!“ – Nicht wahr, da hatt’ ich Recht. Ein Mann wie Du braucht das nur zu hören – dann kann er seine Hand nicht mehr ausstrecken nach so einem Weib. Du, Du kannst es nicht!

Volkmar lächelte; die Augen feuchteten sich ihm aber auch ein

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_550.jpg&oldid=- (Version vom 3.9.2022)