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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Ungeachtet der trockenen Hitze des ersten August staubfreie Straßen, taufrische Grasplätze und Blumenanlagen. Im Louvre vergaß ich fast den Krieg. Drei weitläufige Säle waren neu eröffnet worden. Sie enthielten die herrlichen Skulpturen, die der erste Napoleon während seines italienischen Feldzuges annektierte. Ein halbes Jahrhundert lang hatten diese Marmorbilder in den Kellern des Louvre ihrer Auferstehung geharrt. Ich hörte, daß eine frühere Aufstellung das Eigentumsrecht an ihnen hätte gefährden können. Während ich bewunderte, klangen aus den Anlagen des Louvrehofs (Place Napoleon III.) die Kommandoworte, mit denen die Schulbataillone einexerziert wurden. Nette Jungen darunter, besonders fiel mir ein kleiner Trommler auf, der kaum zwölf Jahre alt sein konnte. In den blitzenden Augen schon etwas vom Kriegsfeuer kommender Zeit.

Als ich dann die Rivolistraße herunterging, hörte ich plötzlich ein besonders starkes Geplärr der unvermeidlichen Marseillaise. Vom Boulevard Sebastopol her kam ein Trupp Rekruten. Der erste trug einen Besen mit einem großen Plakat: „Pour balayer les Prussiens!“ Und ein Mützenschwenken und Lachen, ein Brüllen und Gezeter, sowohl der Soldaten, wie der sie begleitenden Volksmenge, als hätten sie wirklich die Preußen schon auf einen Haufen „zusammengefegt“, „Notre première victoire! Achetez notre première victoire!“ „Unser erster Sieg! Kauft unseren ersten Sieg!“ brüllten am dritten August die Zeitungsjungen vom frühen Morgen an. Zornig flog ich hinunter und erstand mir den Franzosensieg für zwei Sous. Man hatte im Vorgefühl dieses und der „folgenden Siege“ bereits eine neue Zeitung gegründet: „Bulletin de nos victoires“, darin ich noch auf der Straße las: „Ungeachtet der Stärke des Feindes, reichten einige Bataillone hin, die Höhen von Saarbrücken zu erstürmen etc.“ Ich knitterte das Blatt zusammen, steckte es in die Tasche und trat mit der Miene erheuchelter Gleichgültigkeit ins Haus zurück. Die Hausmannsfrau stand strahlend vor Freude an der Thür, sah mich etwas mitleidig an und versuchte mich folgendermaßen zu trösten: „Ach, Fräulein, grämen Sie sich nur nicht erst! Jetzt sind wir schon über die Grenze, und da wird der Krieg ja auch bald vorüber sein!“

Von meinen Pariser Bekannten war so ziemlich alles schon fortgeflogen. Was die Hundstage nicht nahmen, hatte der Krieg vertrieben. Die liebsten deutschen Freunde indes hatte ich noch behalten: die Familie des Doktor M ....., des Arztes unserer Gesandtschaft. Einen beliebten Arzt halten die Patienten fest. Frau und Schwägerin aber mochten ihn gerade in dieser Zeit nicht allein lassen. So war sein gastliches Haus damals die Zufluchtsstätte bekümmerter deutscher Seelen. Keine aber hat den Weg nach der Place Royale au Marais wohl öfter zurückgelegt wie ich. Viel verkehrte ich damals mit einer Hamburgerin, einem Fräulein Agnes T. Sie s–prach nicht viel, hatte aber ein gewisses fatalistisches Phlegma, das meiner Unruhe oft einen Dämpfer aufdrückte. Den Unfehlbarkeitsglauben der Franzosen z. B., der mich täglich ärgerte, fand sie höchstens ers–taunlich; für uns sogar vorteilhaft. „Wenn sie sich vor uns fürchteten, würden sie sich besser vorsehen,“ meinte sie.

Dieses Siegesbewußtsein herrschte auch in dem Damenatelier, das an das meine stieß. Ich kannte die meisten der Malerinnen von früher und klopfte am Tage, nachdem man Saarbrücken gefeiert, bei ihnen an. Mein Eintritt unterbrach offenbar ein Kriegs- und Siegesgespräch, wie ich an einzelnen Ausrufen schon vor der Thür hörte. Die Begrüßung war herzlich und auch wieder etwas unsicher, als ob man der „Prussienne“ gegenüber nicht gleich den rechten Ton fände. Dann eine Menge Fragen, die keinen interessierten – es gab ja doch nur eine, an die wir alle dachten und die zu berühren jede brannte …

Endlich fing die Vorlauteste an – ein leidenschaftliches kleines Weib mit provençalischem Blut in den Adern; dreiundzwanzig erst und schon Witwe, amüsant, pikant und hochbegabt –: „Wir glaubten eigentlich, Sie würden direkt nach Preußen zurückkehren, denn es kann für Sie doch nicht angenehm sein, solche Nachrichten hier zu hören, wie die von Saarbrücken …“

„Und es ist ja sehr möglich, daß es so weitergeht,“ bemerkte eine Zweite.

„Glauben Sie wirklich, daß ,Jhr König von Preußen’ etwas gegen uns ausrichten wird? Man ist ja in seinem eigenen Lande sehr gegen diesen Krieg eingenommen?“

So ging es weiter und bald schon war Entfremdung und keimende Abneigung an die Stelle der früheren guten Beziehungen getreten. Die Theater blieben trotz Hitze und Krieg noch ziemlich besucht. Was sollte man auch anfangen – zum Arbeiten war niemand aufgelegt. Ich dachte ans Fortgehen; meine Sachen waren bald zusammengepackt, aber ich bekam keinen Paß, ebensowenig eine Aufenthaltskarte. Gleich nach meiner Ankunft hatte ich mich mit meinem Paß im Polizeibureau gemeldet. Man hatte eine so genaue Personalbeschreibung von mir aufgenommen, als gelte es einen Steckbrief, meine Legitimationspapiere dann behalten und mich auf schriftliche Antwort verwiesen. Sie blieb aus. Ein Erinnern war erfolglos. Andern ging’s ähnlich. Man lief dahin – lief dorthin, stillte seinen Hunger und lief dann rastlos wieder auf die Straße. Diese Ungewißheit und Rastlosigkeit war’s wohl auch, die auch wenig vergnügungslustige Menschen ins Theater trieb. So beschlossen auch Fräulein Agnes und ich am 6. August ins Vaudevilletheater zu gehen.

Auf dem Boulevard wurden die Zeitungen ohne den Siegesspektakel ausgeboten, der seit Saarbrücken an der Tagesordnung war – gutes Zeichen! Wir erstanden eine Abendzeitung und lasen zu unserer schwer zu verbergenden Freude, daß bei Weißenburg ein Gefecht stattgefunden hätte, bei dem nach anfänglich siegreichem Kampf die Franzosen schließlich einer Uebermacht von eins zu sechs gewichen waren. Innerlich jubelnd, übersetzten wir mit patriotischem Scharfsinn: die Franzosen sind bei Weißenburg gründlich geschlagen worden. Und nun waren wir auch in der richtigen Stimmung, das Rheinlied von Roger singen zu hören, der auf dem Theaterzettel stand. Jeden Abend wurden nämlich in jedem Theater nach Schluß der Vorstellung noch die Marseillaise und das Rheinlied gesungen. Das letztere war die Mussetsche Antwort auf unser Beckersches Rheinlied:

„Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein! etc.“

„Jubelt Roger zu laut,“ sagte ich zu Agnes, „so wollen wir innerlich ein Tedeum anstimmen.“

Das Lustspiel des Abends ging spurlos an mir vorüber. Ich sah in Gedanken das mir bekannte, hübsche Grenzstädtchen Weißenburg voll anstürmender Deutschen und fliehender Franzosen. Da verbreitete sich kurz vor dem Fallen des Vorhangs eine eigentümliche Bewegung im Theater. Auf den Gesichtern bemerkten wir zu unserm Schrecken etwas wie Genugthuung und Freude. Kaum war das Stück aus, lachte, lärmte und jauchzte alles durcheinander. Auf einmal wurde es auch neben uns laut: die Nachricht von einer großen Niederlage der Deutschen sei soeben eingetroffen, das Armeecorps des Kronprinzen in wilder Flucht! …

Der Umschlag war so entsetzlich für uns, wie ich kaum beschreiben kann.

Jetzt rollte der Vorhang wieder auf. Roger trat vor. Nie werde ich den übermütig spottenden Ausdruck vergessen, mit dem er das Rheinlied hinausschmetterte:

„Nous l’avons eu, votre Rhin allemand,
(Wir haben ihn gehabt, euren deutschen Rhein,)
Son vin a perlé dans nos verres . . .“
(Sein Wein hat geschäumt uns im Glas.)

Die letzte Strophe schleuderte er ins Publikum wie eine Triumphfanfare. Dann rief er laut, eh’ er abging:

„… et nous le prendrons votre Rhin allemand!“
(Und mir werden ihn nehmen euren deutschen Rhein.)

Ein wahres Siegesgeheul war die Antwort.

Unten auf den Boulevards aber scheint ganz Paris zusammengekommen zu sein. Das treibt, das wogt! Nur langsam schleichen wir uns vorwärts. Die Siegesnachricht hat gewirkt wie Sekt. Es ist, als ob alle Franzosen plötzlich die intimsten Freunde geworden wären und eben zusammengekommen, um ein gemeinschaftliches Fest zu feiern. Aus den Cafés, deren kleine Tische bis in die Mitte des Trottoirs reichen, hört man Pfropfen knallen, Gläser anklingen. Vor uns geht ein Herr, an jedem Arm eine Dame eingehenkelt. Er ruft einem Entgegenkommenden zu: „Zwanzigtausend Gefangene – vive la France!“

„Nein – dreißigtausend!“ korrigiert ein Zweiter, der offenbar nicht zu ihm gehört. Drauf ergänzt die Stimme eines Dritten von einem der kleinen Tische: „Meine Herren, die Depesche spricht von fünfzigtausend Gefangenen, die Mac Mahon gemacht – darunter der Kronprinz!“

Dies nur ein Beispiel der Stimmung, die in tausend Varianten jenen Abend in Paris laut wurde, hervorgerufen durch eine Depesche, welche an der Börse angeschlagen war. Agnes und ich empfanden das Lachen und Jauchzen wie persönliche Beleidigungen, nachdem wir erst eben im Weißenburger Siege geschwelgt hatten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_555.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2022)