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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Was sich ereignet, das wird der Einmarsch sein!“ sagte Struve, die Papiere in seiner Hand zerdrückend. „Sind der Herr Kanzler bei Seiner Durchlaucht nicht vorstellig geworden, welche Lasten dadurch der Landschaft aufgelegt, welche Verheerungen angerichtet werden können?“

„Durch solche Reden würde man in die tiefste Ungnade fallen, mein Lieber,“ belehrte der Kanzler gelassen.

Ein Zug Trabanten, ausgerüstet mit Sporen und Karabinerriemen, kam ihnen von der Küche her entgegen, in verdeckten Schüsseln den ersten Gang mach dem Tafelzimmer tragend. Ein Unteroffizier der Leibgarde, den Hut unter dem Arm, marschierte voraus, ein anderer folgte nach.

„Es ist ein Poupetou von Schnepfen, die meine Federschützen erbeutet haben,“ flüsterte wichtig der vorübereilende Oberjägermeister dem Kanzler zu.

Struve zog finster die Brauen zusammen. Für die Bewachung der Schnepfenpastete war bestens gesorgt. Wer schützte Stadt und Landschaft?

Der Schloßhauptmann, der mit den andern Hofkavalieren zur Tafel zog, sah ihm nach. „Der junge Sekretarius Struve war sichtlich in Sorge,“ sprach er. „Er ist zwar ein Schwarmgeist, trägt sogar eine Stutzperücke, wenn er aufs Schloß geht; aber ich glaube, er ist ein heller Kopf. Soll wirklich gar nichts geschehen?“

„Das Notwendigste,“ antwortete der Leibarzt, ein älterer Mann mit verschlossenen Gesichtszügen, der am Fenster stand und das tiefziehende schwere Gewölk beobachtete, das der Wind von Süden hertrieb. „Sobald das Wetter es erlaubt, müssen Seine Durchlaucht sich in die warmen Bäder von Aachen begeben.“

Und nun war im Schloß nicht mehr die Rede vom Krieg, sondern einzig von der Badereise.

Denn noch galt das Wort Ludwigs XIV.: „L’Etat c’est moi!“ Der die neue Losung: „Der König ist der erste Diener des Staates!“ ausgeben sollte, Friedrich II. von Preußen, war noch nicht geboren.

Und man lebte zudem in der Zeit des Rückschlages, der auf die Not des Dreißigjährigen Krieges, die harte Arbeit der ihm folgenden Jahrzehnte kommen mußte. Nach Luxus und Genuß trachteten alle Stände; und die, welche berufen waren, über das Wohl der Bevölkerung am Staatsruder zu wachen, trugen ihren Stellungen hauptsächlich durch ehrfurchtgebietende Perücken, stattliche Doppelkinne Rechnung und bekundeten feigen Widerwillen gegen Anforderungen der Pflicht.

Aber auf einzelne fiel doch schon ein Strahl der neu aufsteigenden Zeit, die sich später den Namen des Jahrhunderts der Aufklärung verdienen sollte.

Auch Christian Struve gehörte zu diesen. Außer dem Titel eines Doktors beider Rechte brachte er von der Universität Jena die Erinnerung heim an manchen freien Geistesblitz der gelehrten Professoren, an frisch aufbrausende Gespräche, welche die jungen Musensöhne über ihre weißen Thonpfeifen und Lichtenhainer Kännchen hinweg miteinander gepflogen hatten.

Aber er mußte einsehen, daß die Zeitenuhr in seiner Vaterstadt fast noch auf derselben Stelle stand wie ehedem.

Während er über die offenen Gossen sprang, in die kleine Rinnsäle vom abschüssigen Pflaster liefen, den Ausguß der Drachenköpfe vorsichtig vermied, welche das von den Dächern tauende Wasser herabspieen, zersann er sich den Kopf, wie der drohenden Gefahr vorzubeugen wäre.

War nirgends ein Beistand zu finden?

Da tauchte in seiner Erinnerung ein junger aber ernster Herr auf, ein Gesicht mit klugen Augen, deren gesammelter Blick aus der Tiefe herausdrang: der Erbprinz Günther von Sondershausen, schon bei Lebzeiten seines Vaters die Seele der dortigen Regierung.

Er würde dereinst nach dem Aussterben der hiesigen Linie der Herr auch dieses Landes sein.

Struve war ihm vorgestellt worden, als er bei den Verhandlungen über die Einführung des Erstgeburtrechtes in Schwarzburg als Protokollführer diente.

Die Erinnerung wehte ihn wie ein frischer Luftzug an.

Er legte seine Notizen nicht mutlos beiseite, als er in seinem schönen Haus in der vornehmen Rittergasse angelangt war. Er setzte sich an seinem Schreibtisch nieder und begann eine Abhandlung darüber auszuarbeiten, wie der Gegner für seine rechtmäßigen Forderungen zu entschädigen und hinwiederum dem unnatürlichen Verhältnis ein Ende zu machen sei, daß über dieses kleine Land drei Herren herrschten: der Fürst, der Herzog von Weimar und der Kaiser.

Manchmal zwar erschien über den Gesetzbüchern ein schönes Mädchengesicht mit sittsam niedergeschlagenen Augen und purpurrotem Mündchen, das man mit einem Dreier zudecken konnte, wie die landläufige Rede war.

Aber er sagte sich, daß es für sein empfindliches Gefühl und seine Manneswürde besser sei, solch holder Vorstellung nicht nachzuhängen. Die Erinnerung an Kilianes Neckerei schuf ihm Unbehagen. Welche Suppe mochte ihm der mutwillige Kobold eingebrockt haben, die ihn die schöne Magdalene unbarmherzig ausessen lassen würde?

Denn – Magdalene hatte noch kein vollkommenes Vertrauen zu ihm gefaßt.

Schon als vor etlichen Wochen der Kanzler die Räte und Diener mit ihren Frauen zu „Caffee mit Sahne und Zucker“ lud, hatte er die betrübende Erfahrung gemacht. Dieweil er Christelchen, der Tochter des Justizienrats, das Filetzeug brachte, gab ihm Magdalene ihre Unzufriedenheit dadurch zu erkennen, daß sie ihm verwehrte, ihr beim Heimgang die seidene Saloppe um die Schultern zu hüllen. Sie hielt ihn für wandelbar, ihn – einen Struve!

Deshalb war es ratsam, bis der erste Zorn vergangen war, die Lieben ad acta zu legen. – –

Aber einmal kam der Frühlingswind mit warmem Hauch durch das Fenster, blätterte spielenden Fingers in den moderigen Urkunden, daß der Doktor beider Rechte sich nicht mehr zu finden wußte.

Da widerstand er dem Lenzeszauber nicht länger. Er trat an das Fenster mit den großen hellen Glastafeln, die eine prunkliebende Großmutter statt der Butzenscheiben hatte einsetzen lassen.

Mit tiefem Atemzug sog er den kräftigen Hauch ein, den die Erde seiner weiten das Haus umgebenden Gärten ausströmte. Welche verheißungsvolle Tragknospen die Birnbänwe bedeckten, die seines Großvaters Hand veredelt hatte! Das Aprikosenbäumchen, der Augapfel seines verstorbenen Vaters, hatte in dem geschützten Winkel, wohin nur die Mittagssonne kommen konnte, schon seine rosigen Blüten entfaltet. „Die kleinen Vöglein“, wie die Bibel die Bienen nennt, summten darum. Vom Geflügelhof her, den noch seine wirtliche Mutter angelegt hatte, tönte das sanft einschläfernde Gurren der Tauben.

Jede Generation hatte an dem wohlhäbigen Familiennest gebessert, und in jener Zeit, wo Festsitzen so üblich war wie heute das in der Welt Herumfahren, erntete der Nachkomme, was der Vorfahr gesät hatte.

Und aus den hellen, aber einsamen Stuben, aus dem Veilchendust der Rondelle, dem süßen Gesang des Sprosserpärchens, das in dem zart umlaubten Jelängerjeliebergang sich sein Nestchen baute, schien ihm immer dieselbe Mahnung zu kommen: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.

Er hatte keine Ruhe mehr bei seiner Arbeit.

Es dämmerte schon so stark, daß er die Buchstaben, die so umkräuselt waren, als trügen auch sie Perücken, nicht mehr erkennen konnte.

Der Bediente mußte ein paar Bürstenzüge über die Schuhe thun, daß die goldenen Schnallen funkelten; die Spitze des dreieckigen Hutes in die Stirn gedrückt, den Rohrstock in die Hand – Christian wollte einmal wieder vor der Superintendentur „gassieren“.

Von weitem erschaute er den Lichtstrahl, der aus Magdalenes Fenster fiel. Es war der weichen Abendluft geöffnet. Er erkannte die feine Profillinie ihres Köpfchens neben dem Myrtenbäumchen auf der Fensterbrüstung.

Der weite Pfarrhof lag öde und still.

Aus dem Kantorenhäuschen tönte der Klang des Cembalo. Sebastian Bach spielte.

Da traf ein leises Singen sein Ohr.

„Siehe! ich stehe vor der Thür und klopfe an!“

setzte eine Stimme wie ein Hauch, aber fest und sicher ein. Dann klang es wie verhaltenes Schluchzen.

In seiner weichen Stimmung griff ihm der Gesang doppelt an das Herz.

Stand nicht eine weibliche Gestalt, den Kopf geneigt, dort in dem dunklen Eckchen unter dem Rosenbusch vor der Thür des Kantorenhauses?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_584.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2022)