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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

einer wandernden Flickschneiderin zu, die vor seinen Augen mitten auf der Straße die Schäden ausbesserte. Da kam ein Flickschuster mit seinem Schnappsack herbeigelaufen, und wie in England die Bootblack- (d. h. Stiefelwichs-) Jungen, so wies auch dieser mongolische Crispinusjünger beharrlich auf die Schäden an den Filzschuhen des Chinesen. Nach längerem Geschrei und Geplapper schienen die beiden handelseinig; der Schuster zog dem Chinesen die Schuhe ab, setzte sich neben das Flickweib und begann nun seinerseits, Lederflecken auf die Löcher der Fußbekleidung zu setzen.

Leder findet in China bei weitem nicht die ausgebreitete Verwendung wie bei anderen Völkern. Lederschuhe sieht man fast gar nicht, denn die Fußbekleidung der ärmeren Klassen besteht aus Strohsandalen, jene der bemittelteren aus Seide, mit Filzsohlen.

In gar manchen Industrien sind uns die Chinesen wie gesagt trotz ihrer primitiven Werkzeuge ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Ihre Silberarbeiten sind bewundernswert; einzelne Arbeiter modellieren, schmieden und vergolden die herrlichsten Vasen, Prunkbecher, Blumenhalter etc. mit Hunderten von getriebenen Figürchen, kaum ein oder zwei Centimeter groß, aber so zart gearbeitet, daß man die Gesichtszüge und den Faltenwurf der Gewänder daran unterscheiden kann; dann werden diese Arbeiten von denselben Künstlern noch ciseliert.

Noch zarter und künstlerischer sind die herrlichen Stickereien. Viele Tausende von Männern und Frauen sind in Canton mit Stickarbeiten beschäftigt, die auch in großen Mengen nach Europa ausgeführt werden und hier willige Abnehmer finden. Monatelang wird manchmal an einem Stück gearbeitet; die Blumen, Vögel, Schmetterlinge etc. werden ihnen nicht vorgezeichnet; sie arbeiten direkt nach dem Muster auf der Seide und führen bestimmte Stickereien auf beiden Seiten derselben aus, wobei sie die Enden der Fäden so geschickt verarbeiten und verstecken, daß man sie nicht entdecken kann. Die schönsten Muster werden in Seidenstoffe auf ganz einfachen Webstühlen eingewebt. Mit den Geheimnissen der Färberei sind sie, obwohl sie von der Chemie als Wissenschaft keine Ahnung haben, wohl vertraut, und die von ihnen gefärbten Stoffe halten die Farben besser als diejenigen, die sie von Europa geliefert bekommen. In der Zartheit und Genauigkeit von Holz-, Elfenbein- und Steinskulpturen stehen sie unerreicht da. Mit großer Findigkeit benutzen sie z. B. in geädertem Marmor die dunklen Adern, in Astholz die Astknoten für die Zwecke ihrer Arbeit; aus einer knorrigen Wurzel schneiden sie im Handumdrehen einen langbärtigen Götzen, aus einem vielkantigen Speckstein einen grotesken Alten, wobei ihnen die Auswüchse und Vorsprünge des Materials eher förderlich als hinderlich sind. An Häuserfronten, Thüren, Wänden, Möbeln bringen sie derlei Skulpturen an, wo sich nur Platz bietet, schneiden, polieren, vergolden und bemalen sie mit großer Kunst, aber sie verstehen es nicht, den Figuren die richtigen Verhältnisse, landschaftlichen Darstellungen die Perspektive zu geben. Das zeigt sich auch bei ihren Malereien. In Canton fand ich Tausende mit dem Bemalen des sogenannten Reispapiers beschäftigt, eine Eigenartigkeit der chinesischen Industrie. Dieses vermeintliche Reispapier, zart, blendend weiß, sehr gebrechlich und federleicht ist keineswegs Papier, sondern das Mark einer Abart des Brotfruchtbaumes, das sehr sorgfältig herausgeschnitten und dann mit dünnen breiten Messern in ganz dünne Scheiben geschnitten wird. Auf diese Scheiben malen die Chinesen mit Wasserfarben alle möglichen Bildchen aus dem Volks- und Familienleben, Porträts, Landschaften etc.; aber sie haben es nicht gelernt, den Bildern Schatten zu geben, ja in einem Porträt wird beispielsweise die Schattierung als Fehler angesehen; bei Darstellungen von Landschaften denken sie sich dieselben nicht von einem einzigen Standort aus gesehen, sondern sie verändern denselben jeweilig und malen also eine entfernt stehende Person ebenso groß und mit ganz denselben Einzelheiten wie eine nahestehende, nur stellen sie die letztere tiefer, die entfernt stehende höher im Bilde.

In der Mehrzahl der Städte, selbst der kleinsten, werden Seidenstoffe gewebt, aber nirgends befindet sich eine Fabrik in unserem Sinne des Wortes; die Seide wird in einzelnen Familien verarbeitet, deren wertvollste Habe ihr unförmiger Webstuhl bildet. Und doch verstehen diese armen, unwissenden Mongolen bessere Seidenstoffe zu machen als wir. Die Worte Seide (Setum), Satin, Senshaw, die heute in der ganzen Welt eingebürgert sind, stammen aus dem Chinesischen, wo sie Sse, Ssetun und Ss’inscha heißen. In Nanking ließ ich mich in die berühmte kaiserliche Seidenfabrik führen, wo die Seide für den kaiserlichen Hof in Peking sowie für die Ahnen- und Götzenopfer angefertigt wird, gewaltige Mengen, denn in Peking werden für Opferzwecke jährlich dreißigtausend Stück Seide allein verbrannt! Statt einer Fabrik fand ich dort eine Reihe schmutzstarrender dunkler Räume und in jedem einen plumpen vorsündflutlichen Webstuhl; aber auf diesen entstanden allmählich unter meinen Augen die herrlichsten Damastbrokate, welche am chinesischen Kaiserhofe die Bewunderung der Gesandten in so hohem Grade erregen!

Welche Künstler die Chinesen in Bezug auf das Porzellan sind, ist ja bekannt; von China kam die Porzellanfabrikation auch nach Korea und von dort nach Japan, wo man heute vielleicht noch zarteres Porzellan macht wie in dem eigentlichen Mutterlande desselben.

Ob es wohl bekannt ist, daß der Name „Porzellan“ nicht aus diesem letzteren, sondern aus dem – Portugiesischen stammt? Als die Portugiesen vor drei Jahrhunderten die zarten durchscheinenden gebrechlichen Theetassen zum erstenmal sahen, hielten sie das Material für geschliffene Perlmuttermuscheln, im portugiesischen Porcellana genannt, und dieser Name blieb dem Porzellan in den meisten Ländern und Sprachen bis auf den heutigen Tag.

Papier war ihnen schon im ersten Jahrhundert vor Christo bekannt, aber gerade so wie damals machen sie es heute noch aus Bambusfasern, die sie in einem großen Mörser zerstampfen und mit etwas Baumwollfaser mischen. Sie selbst betrachten das koreanische Papier als das beste, und bis auf die jüngste Zeit bestand ein Teil des Tributs, welchen Korea an den Kaiser von China zu zahlen hatte, in Papier. Aus derselben Zeit stammt die Erfindung der Tusche, die sie immer noch aus denselben Stoffen, Oel-, Kohlen- und Fichtenholzruß (also nicht etwa aus dem Tintenfisch, wie es in Europa vielfach angenommen wird), erzeugen. Vielfach wurde von seiten der Europäer in China versucht, besonders bei Artikeln, welche nach Europa ausgeführt werden, den Chinesen billigere Erzeugungsmethoden beizubringen, aber sie bleiben mit rührender Beharrlichkeit bei ihren althergebrachten Methoden, wie sie möglicherweise schon zur Zeit des Confucius gebräuchlich waren. Fast könnte man daran verzweifeln, daß sie sich in ihren Industrien überhaupt aufrütteln lassen, wenn nicht die wohlfeilen europäischen Produkte die chinesischen unterbieten und deshalb immer mehr und mehr Eingang finden würden.

Der Chinese ist viel zu sehr Rechenmeister und Handelsmann, um sich auch dann auf seine Ueberlieferungen zu steifen, wenn es ihm an den Geldbeutel geht, einzelne Artikel hat er schon aufgegeben, um sie durch europäische zu ersetzen, andere europäische hat er selbst zu erzeugen begonnen. So z. B. machen die Chinesen wohl schon seit langer Zeit Nähnadeln, aber jede einzelne wird mit der Hand gefeilt und gebohrt und ist deshalb nicht nur kostspielig, sondern auch so plump, daß sie sich mit unseren spottbilligen Nadeln gar nicht vergleichen lassen. Bekanntlich werden unsere Nadeln in kleine schwarze Paketchen gepackt. Die guten chinesischen Damen stießen sich anfänglich an der schwarzen Unglücksfarbe des Packpapiers und meinten, wenn die Nadeln in rotes Papier gepackt wären, würden sie sie doch versuchen. Natürlich beeilten sich die Birminghamer, ihre zarten Produkte für den chinesischen Markt in schönes rotes Papier zu hüllen, und jetzt haben sich die Chinesen so sehr an die billigen europäischen Nadeln gewöhnt, daß sie auch schwarze Packungen annehmen. Der chinesischen Nadelindustrie aber ist der Garaus gemacht. In den entfernten Provinzen des Innern schmieden sich die Bauern ihre Nadeln freilich noch immer selbst. Auch den Nutzen von Glas haben sie einsehen gelernt, das sie bis zum Verkehr mit den Europäern gar nicht gekannt haben. Ihre Fensterscheiben waren Papierbogen, ihre Spiegel aus Metall. Allmählich lernten sie das Schmelzen des Glases, und Tausende von Tonnen mit Glasscherben und alten Flaschen wurden jährlich nach China exportiert; jetzt verstehen sie es schon, den Kies selbst zu schmelzen und Glasscheiben zu erzeugen, so daß die Ausfuhr von Glasscheiben nach China vollständig aufgehört hat. Aber Spiegel können sie noch immer nicht erzeugen, dafür schleifen sie ihre runden Metallspiegel so glänzend, daß dieselben wirklich Ersatz für die Glasspiegel bilden.

Auch Brillen fanden bei den Zopfträgern willigen Eingang, aber weit davon, sie aus Europa einführen zu lassen, machen sie die Linsen ebenso wie die Horneinfassungen selbst; je größer die Linsen, je dicker die Rahmen, desto besser, denn es gehört in China

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