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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Nur den Sekretarius hielt sein Dienst noch fest. Er mußte die von dem Fürsten dem Kanzler ausgestellten Vollmachten zu einem Aktenstück zusammen fügen, das dabei gebrauchte Staatssiegel unter Verschluß bringen. Unmutig stieß er es in die Holzkapsel. Trübselige Wochen lagen hinter ihm. Mit allen seinen Angelegenheiten war es gegangen wie in einem schweren Traume, wo man mit Händen und Füßen arbeitet und nicht vom Fleck kommt.

Magdalene ließ sich nirgends blicken. Seine Herzallerliebste verstand durch Verschwinden und Schweigen so deutlich ihre Meinung kund zu thun als andere durch stundenlange Reden. Es gab Augenblicke, wo sein Unmut über sie seiner Liebe die Wage hielt.

Und wenn er dann in treuer Pflichterfüllung Vergessen suchte, wurde ihm da kein besserer Erfolg zu teil. Er hatte seine Abhandlung mit einer gehorsamsten aber dringenden Mahnung dem Kanzler eingereicht. Und dann war sie in dessen Schreibpult verschwunden wie in der Höhle des Löwen, in die viele Spuren hinein, keine wieder herausführen.

Er sah ein: auf diesem Wege kam er nicht vorwärts.

Und wieder tauchte die Erinnerung an den Erbprinzen von Sondershausen in ihm auf. Gewißlich: bei dem jungen Herrn fände er Verständnis für seine Vorschläge. Wie derselbe mit weiser Umsicht den Verhandlungen präsidierte, welche der unseligen Zerstückelung des Landes ein Ende machten, zu der Entwicklung eines Staatslebens den ersten Stein legten, so würde er auch der Aussaugung seiner zukünftigen Unterthanen vorzubeugen suchen.

Riefe man ihn an –

Struve schüttelte den Kopf. Wie kam ihm nur der Gedanke? Das war nicht der gesetzmäßige Weg, den er zu wandeln hatte wie allezeit seine Altvordern.

In Nachsinnen verstrickt war er aus der Kanzleistube herausgetreten auf den Laubengang, der, mit geschnitzten Bogen auf schweren Eichenstämmen ruhend, vor dem Regierungsgebäude des äußern Schloßhofes hinlief.

„Welchen tiefen Dingen sinnt der Herr Sekretarius nach, daß Er Seine ergebene Dienerin nicht sieht?“ erklang eine helle Stimme in nächster Nähe.

Kiliane wiegte sich heran, den hohen Strohhut schief auf dem Toupet.

„Dem Ausspruch,“ erwiderte Struve, seinem Groll Luft machend, „welchen der große Kanzler Gustav Adolfs, Oxenstierna, seinem Sohn gegenüber gethan hat: ,Du glaubst nicht, mit wie wenig Weisheit die Welt regiert wird‘.“

Sie sah ihn unter dem gegen die Sonne gehaltenen Fächer hervor eindringlich an. „So spricht der Herr Sekretarius zur Nichte seines Kanzlers, zur Hofdame der Frau Fürstin, zur leichtsinnigen Heymbrotin?“

„Zu derselben Kiliane von Heymbrot,“ antwortete er ernst, „die einst als Kind den langen Christian Struve auf seinem Spaziergang nach dem Hain einfing, damit er eine junge auf das Pflaster gefallene Schwalbe wieder in das Nest setzte, und mit ihren schwachen Fingerchen die Leiter hielt, auf der er das Rettungswerk vollbrachte. Sie wird dasselbe Mitleid jetzund bereit halten für die Tausende von Mitmenschen, deren Heimstätten, deren bescheidentlicher Wohlstand bedroht sind, und für deren Schutz niemand eine Hand regt.“

Ein weicher Schimmer war in ihren Augen aufgestiegen. „Ja,“ sagte sie leise, „es ist schrecklich, aus dem Nest zu fallen. Und es giebt immer frivoles Gelichter, das andere gern daraus verjagt. Erst heute noch habe ich eine künstlich gedrehte Schlinge gefunden, mittels deren man ein unliebsam gewordenes Nest zu räumen versucht. Ich habe sie für den Herrn Sekretarius mitgebracht.“ Sie zog aus einem kleinen seidenen Beutel, der ihr am Arme hing, ein zerknittertes Stück Papier. „Ja, staune Er nur!“ scherzte sie. „Das Präsent ist so kostbar, wie Er es von Kiliane von Heymbrot erwarten kann. Eine der Papilloten, auf die unser erster Kammerherr die Locken seiner Perücke hat wickeln lassen. Er hat sie verloren, als er sich von Flickfieken seine Weste enger nähen ließ und, da ich zufällig ins Zimmer trat, Reißaus nahm.“

Etwas befremdet entfaltete Struve das Papier. Es war ein geschriebener Zettel, der den Befehl an den Kammerherrn enthielt, in die Kirche zu fahren, die Predigt des Superintendenten anzuhören und Thema und Teile, überhaupt so viel als möglich, nachzuschreiben. Das Papier trug keine Unterschrift; aber das Wasserzeichen zeigte das braunschweigische Roß.

„Das Fräulein verpflichtet deren ergebenen Diener zu ewigem Dank,“ sprach Struve erregt.

„Er sieht,“ ermahnte sie, ihren Fächer erhebend, „der Boden, auf dem wir stehen, ist Sumpf, in dem ein Mann, der ihn geradeaus durchschreiten will, lautlos versinken kann, ob er nun mit einer Predigt oder mit unbequemen Gesetzbüchern im Wege ist. Sumpf, in dem nur Schlange und Irrlicht“ – sie tippte mit schelmischer Demut sich auf die Brust „nichts zu fürchten haben.“

„Ich verstehe das Fräulein,“ sagte er. „Aber es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die ihr Leben dran wagten, unheildrohende Sümpfe unschädlich zu machen. – Ein viel gefährlicheres Werk dünkt es mich, ein Irrlicht, vorstellen zu wollen. Und,“ fuhr er mit seinem schönen ernsten Lächeln fort, „da wir einmal dabei sind, uns wie in ferner glücklicher Kinderzeit zuzurufen: ,Ueberspring keine Sprosse, Christian!‘ ,Nimm die Händchen in acht, Kiliane!‘ so lassen auch Sie mich eine Warnung aussprechen. Warum will das Fräulein für einen unsteten Flattergeist gelten? Warum trägt Sie eine Larve vor dem Gesicht, hinter deren leichtfertiger Grimasse die edlen Züge verschwinden? Sie sollte fürchten, diese Maske könnte endlich so fest haften, daß das Gute dahinter erstickt wird.“

Kiliane zuckte die Achseln, die sich, zart abfallend, unter dem lavendelfarbigen Ueberkleid abzeichneten. „Die Hofschranzen verdienen nur eine Grimasse,“ entgegnete sie verächtlich.

„Alle?“ fragte er. „Es wird mir schwer, zu glauben, daß unter diesen glatten Mienen nicht hier und da eine größere Seele sich verbergen, nicht ein einziges wärmeres Herz unter den Spitzenjabots schlagen sollte. Vielleicht verlarven auch andere ihr wahres Gesicht.“

Sie sah betroffen auf. Dann verlor sich ihr Blick hinaus in den blauen sonnigen Himmel, nachdenklich, weltvergessen.

Auch Struve schwieg. Es war so still, daß man das leise Summen der wie glitzernde Pünktchen durch die Luft fahrenden Insekten hörte.

Endlich atmete sie tief auf, als erwache sie aus einem Traum und besinne sich auf das wirkliche Leben. „Au revoir, Monsieur Struve.“ Sie machte einen anmutigen Knix.

Er verbeugte sich tief. Ihre zierlichen Stöckel klapperten nach dem Pförtchen, das in die Dienstwohnung des Kanzlers führte.

Er sah ihr mit Rührung nach, wie sie gleich einem rosigen Schmetterling mit blauen Oberflügelchen hinter den Bogen des Laubenganges verschwand.

Dann wandte er sich dem Heimweg zu, trotz der gefährlichen Papillote mit mutvollerem, frischerem Schritt.

Auch für ihn war die Zeit gekommen zu entscheidendem Handeln. Noch heute mußte er die Warnung in die Superintendentur tragen.

Und zugleich wollte er seine Werbung zum Abschluß bringen, sich das Recht erringen, das geliebte Mädchen in den drohenden Zeitläuften schützen zu dürfen, ihr, wenn das Schicksal ihrem Vater Schweres vorbehielt, eine Zuflucht zu sein.

Wenn sie ihn auch durch ungerechten Verdacht gekränkt hatte – es war jetzt keine Zeit zu kleinlichen Häkeleien.

Ihm als Mann kam es zu, die Verhältnisse zu klären, ihr das unwandelbare Vertrauen zu ihm einzupflanzen, das zu einer würdigen Ehe unentbehrlich ist.

Ein süßer Trost hatte ja doch auf dem Grunde aller der Kränkungen gelegen: wo Eifersucht ist, muß auch Liebe sein.

Das Herz Christian Struves ging in immer rascheren Schlägen.

Es ist ein Wunder, daß so viele Ehen zu stande kommen trotz der Angst, welche die Menschenkinder vor dieser wichtigen Handlung ausstehen müssen.

Der junge Freier hatte auf keiner Stelle mehr Ruhe, nicht einmal beim Mittagstisch, von dem die alte Köchin, ein Erbstück des Hauses Struve, sogar die Potage aus Spargel und jungen Erbsen, mit Krebsen garniert, unangerührt wieder in die Küche zurück bekam. Der Bediente wurde zu außergewöhnlicher Zeit mit der Staatsperücke zum Friseur geschickt und – auch in der Perücke bringt es die Jugend zur Poesie – Christian begab sich in den Balsamgarten und pflückte von den Rabatten goldgelbe füllereiche Ranunkeln, braune Aurikeln, duftende zarte Maienglöckchen und befahl, sie mit einem seidenen, die Farbe der Treue tragenden Band zu einen Strauß zusammen zu fügen.

Von diesem Augenblick an ging das Gesinde nur auf den Fußspitzen und flüsternd im Haus umher: man wußte, was die Glocke geschlagen hatte.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_602.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2022)