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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

war das Gespenst eines Mannes, der zur Strafe für einen Meineid umgehen sollte.

„Jeden Abend,“ fuhr Fieke fort, „wandert er, die lichterloh brennenden Schwurfinger erhoben, am Hochgericht auf und ab, und die Menschen stehen vor dem Thor und belauern den Spuk. Nicht einmal die Scharwache hat sich hinaus getraut. Nur“ – sie schluckte – „Märten ist hinüber gegangen; aber da ist der Lattermann verschwunden gewesen. Freilich, vor Märten hält keiner stand.“

Und beim Aufbruch sagte sie: „So, Frau Apothekerin, nun ist der letzte Strumpf versohlt. Ich will wünschen, daß Sie ihn gesund zerreißt, glanb’s aber nicht. Für mein Teil wär’ mir’s recht, wenn die Welt unterginge. Und ich nehme auch die Magenwurst nicht mit; wer soll sie denn essen?“

Sie wischte verstohlen eine Thräne ab. Seit dem Zank mit Märten legte sie vergeblich ein Abendbrot auf ihre Fensterbank. Der große Kuckuck, wie ihn spottweise ihre Kameradinnen nannten, holte nichts mehr.

Als die Feierabendglocke läutete, ging sie nach Haus. Immer bekam sie Herzklopfen, wenn das Türmchen vor ihr aufstieg.

Nein, er war wieder nicht daheim.

Alle Läden standen offen. Nur die alte Kartaune war zu sehen, die mit ihren schön verzierten Henkeln, wie mit trutzig in die Seite gestemmten Armen ihr den Rücken kehrend, ins Land hinausschaute.

Sie zog ihr dunkles Regentuch über den Kopf und weinte, während sie nach ihrem Häuschen schlich. –

Unter den Bürgern aber munkelte es von wirklichen Gefahren, die der Stadt drohen sollten.

Der Magistrat hatte eine geheime Sitzung gehalten, der Rentamtmann durch den Hofmaurer im tiefsten Schloßkeller eine Grube machen lassen, genau nach dem Maß der eisernen Geldkiste.

Und wer trotzalledem noch unbeschwerten Gemütes war, der saß erschüttert am nächsten Sonntag in der Oberkirche, als die Predigt begonnen hatte.

Mit seiner mächtigen Stimme, die auch den letzten Winkel des alten Gotteshauses füllte, rief der Superintendent seiner Gemeinde ein „Wacht auf!“ zu.

Er strafte die Häupter der Stadt, die vor drohenden Gefahren die Augen zudrückten, um nicht vom Faulbett aufgestört zu werden, die lässigen Diener, die berufen waren, Rat zu geben, aber Menschenfurcht über Gottesfurcht setzten, die eitlen Höflinge, die schwelgten und praßten und sich’s nicht anfechten ließen, ob zu ihren Festen vielleicht bald die brennenden Hütten des armen Landvolks als Feuerwerk leuchten würden.

Zuletzt führte er die Lichtgestalten der selig verstorbenen Frauen des Fürstenhauses vorüber: die heldenmütige Katharina, die den Spieß gegen einen Alba fällen ließ; die andere Katharina, die Schwester des großen Oraniers, deren Andenken in den Kirchen nnd Schulen gesegnet wurde, die fromme Gräfin Ludämilia, deren Lieder die Gemeinde sang.

Seine ihm anvertraute Herde war bis in die innerste Seele erschüttert.

Nur die Insassen des herrschaftlichen Standes bewahrten ihre höfische Fassung.

Der Kammerherr hatte geschäftig die Butzenscheibenfenster aufgeschoben und schrieb emsig auf kleine in das Gesangbuch gelegte Blätter.

Der Junker von Eichfeld hörte gar nicht, was vorging; er war versenkt in den Anblick Kilianes, die, ohne mit den Wimpern zu zucken und ihm einen Blick zu gönnen, auf ihrem kirchlich altväterischen Lehnstuhle thronte.

Ihr gegenüber, ebenso unbeweglich, saß Magdalene mit ihrer Mutter in dem geschnitzten Gestühl für die Geistlichkeit.

Die Superintendentin war so ergeben, wie Frauen werden, die das Schicksal neben starke thatkräftige Männer gestellt hat. Als sie des schreibenden Kammerherrn gewahr wurde, nickte sie leise, kummervoll vor sich hin.

Magdalenes Gesicht sah, immer blasser werdend, aus dem altersbraunen Rahmen heraus. Da also vollzog sich, was das kleine Billet, welches Struve an jenem traurigen Abend ihrem Vater übergab, verraten hatte. Ihr Blick huschte verstohlen hinüber zu Struve.

Seiu Gesicht war dem Prediger zugekehrt. Heute grüßten sie nicht wie sonst seine ernsten Augen.

Als aber ihr Vater nun von der Kanzel herab der Sakristei zuschritt, da erhob sich Strnve und verbeugte sich tief und ehrfurchtsvoll. Dann nahm er sein Gesangbuch anf. Sie war nicht mehr für ihn da.

Sie konnte das Lied nicht finden, so zitterten ihr die Finger. Der Mutter rollten Thränen über die Wangen, als sie es aufschlug.

Ihr Gatte hatte, zum Zeichen, daß er aufs äußerste gefaßt war, die Dichtung Paul Gerhardts gewählt, mit welcher dieser sich tröstete, als er für sein Bekenntnis in die Verbannung gehen mußte: „Befiehl du deine Wege.“

Und der streitbare Mann an der Orgel, Sebastian Bach, gab, von Begeisterung erfaßt, sein Bestes.

In immer neuer Gestalt brauste der Choral herab, umrankt von Tongewinden, wie man sie noch nie gehört hatte, durchflochten von Zwischenspielen, die sich in seligen Fernen zu verlieren schienen.

Aber wenn auch das Ohr von der herrlichen Musika gefangen wurde, zu folgen vermochte die ungelehrte und jetzt außerdem erregte Gemeinde nicht. Eine Stimme nach der andern schwieg. Der Gemeindegesang stockte. Ein angstvoller Augenblick plötzlicher Stille trat ein.

„Ach, das schlimme Omen!“ seufzte in einem der letzten Frauenstände Fieke.

Da – als öffne eines der vergoldeten Engelsköpfchen den Mund – erhob sich eine süße hohe Frauenstimme, und in die donnernde Orgel hinein klang es mit unfehlbarer Sicherheit: „Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“

Die verwirrte Versammlnug fand sich wieder zurecht und schloß sich zum letzten Vers an.

Dann verließen die Kirchengänger eifrig flüsternd das Gotteshaus.

Auch Magdalene war mit ihrer Mutter auf den von zarten Gräsern überzogenen Pfarrhof hinaus getreten.

Sie war so blaß wie das Spitzenbusentuch, das sie über dem schwarzen Kirchenanzug trug. Warum hatte sie auf der Treppenstufe aus alter Gewohnheit sich umgeblickt? Sie konnte doch nun wissen, daß Christian ihr nicht wie sonst eine Reverenz machen, saondern an ihr vorbeisehen würde.

Die Menschen teilten sich; die Hofkutsche rasselte langsam hindurch, erfüllt von Lachen und Plaudern.

Auf dem Ehrenplatz saß Kiliane neben dem Kammerherrn. Sie hielt eine Bonbonnière auf den Knieen. Mutwillig zog sie plötzlich dem Kammerherrn die Papierblättchen aus dem Gesangbuch, vierteilte sie blitzschnell und begann ihre Zuckerplätzchen und Makronen einzuwickeln.

Dann warf sie fröhlich dieselben den Kindern, die am Wege standen und neugierig ihre landesüblichen Stumpfnäschen vorstreckten, zu.

Christian bekam ein ganzes Bündelchen, um das Marzipanherz gehüllt, das in seinen gezogenen Hut flog.

Der Kammerherr zappelte förmlich, aber Eichfeld auf dem Rücksitz hielt schützend seinen Hut zwischen ihn und die flinken Finger.

Dann steckte Kiliane begütigend dem Kammerherrn wie einem zornigen Papagei ein Pfeffernüßchen in den Mund und lachte übermütig, als er sich der Anziehungskraft der rosigen Fingerspitzen nicht erwehren konnte.

Magdalene sah noch, wie auch der Junker die Lippen hinhielt, um von Kilianes Hand eine Süßigkeit zu erhaschen, wie sie die dargereichte überzuckerte Kirsche erfaßten und dann an der zarten Hand trotz ihres Widerstrebens sich festzusaugen schienen, während es förmlich aus den großen grauen Augen loderte.

Ah, das war das Eichhörnchen des Sylvesterabends?

Die Kutsche rollte davon; mit der aufgeschriebenen Predigt trieb ein warmes Sommerlüftchen sein Spiel.

Den Rest barg eben Struve in seiner Westentasche.

Das alles sah Magdalene. Nun vernahm sie das erleichterte Aufatmen ihrer Mutter.

Für den Augenblick wenigstens war der Beweis gegen den Vater vernichtet, durch die koketten Künste einer Dame, über die sie sich hoch erhaben gedünkt hatte.

Und was hatte sie geleistet?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_630.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)