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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Aus dem Stolz ihrer Tugend heraus, die ihr auf einnml hart und trocken erschien, herbe Worte gesprochen, an die sie jetzt nur mit Beschämung denken durfte.

Da ging er hin – war es möglich? – stracks auf Bärbchen Marei zu.

„Die Demoiselle Bachin ist dem Monsieur Bach gewachsen,“ sprach er mit seiner lauten Stimme, die nie etwas verhüllen wollte. „Die ganze andächtige Versammlung muß der Demoiselle dankbar sein für den erhebenden Trost, den sie mit ihrer schönen Stimme gespendet hat.“

Das Waldvöglein knixte lächelnd. „Daß ich die Gemeinde nicht umwerfen lassen darf, habe ich schon als Kind bei meinem seligen Vater gelernt. Die kleinen Waldteufel sangen oft genug ins Blaue hinein.“

Da entstand ein Gepolter auf der Orgeltreppe. Sebastian Bach kam herabgestürmt. Seine mannhafte Gestalt erschien, Freude im Angesicht, auf dem sich das Ungebändigte der einst unehrlichen vagabundierenden Spielleute zu einer stolzen Freiheit verklärt hatte.

Ohne auf die finstern Blicke der Gemeindemitglieder zu achten, die er durch seine Variationes irre geführt hatte, brach er sich Bahn durch sie und rief schon von weitem. „Base, Du bist’s gewesen, die neulich unter meinem Fenster gesungen hat! Ich habe die Stimme wiedererkannt.“

Sie kicherte wie eine Lachtaube. „Als Du herausschautest, war ich schon fortgelaufen. Nun kann ich’s nicht mehr leugnen. Hier der Herr Sekretarius hat mich dabei erwischt. Ich weinte, als ich Dich meines seligen Vaters Motette so schön spielen hörte; er glaubte, es sei mir ein Unglück geschehen.“

Jetzt lachten alle Drei.

„Nun mußt Du mit mir musizieren,“ befahl Bach. „Ich habe eine Kantate im Kopf.“

„Ach ja, ach ja,“ jubelte sie.

„Kannst Du von Noten singen?“

„Kannst Du eine Bachin so fragen?“

Die Welt versank für das Musikantenpärchen; es entflog in das Reich der Töne.

Mit einem wehmütigen Blick sah Struve ihm nach. Dann wandte auch er sich rasch und verließ den Pfarrhof.

Und Magdalene hatte im Vorübergehen auch das gehört. Sie krampfte die Hände um das Gesangbuch, als müsse sie sich an etwas festhalten.

Ihr eifersüchtiger Verdacht zerflatterte als Hirngespinst. Ungerecht, kleinlich stand sie vor Christians Augen, sie, die sich immer erhob, daß man sie keines Fehls zu zeihen vermöchte.

Mit zitternden Füßen folgte sie ihrer Mutter nach Haus.

Die blasse Frau legte ergebungsvoll das Gesangbnch an seine Stelle. „Dem Gedanken an den jungen Struve müssen wir Valet sagen. Solche Männer werben ehrlich, aber schmachten nicht lange einer Frau nach. Sie leben vor allen Dingen ihrem Amt, ihrer Pflicht, und wenn die Frau ihnen dabei liebevoll zur Seite steht, hat sie einen gesegneten Beruf. Schade, daß dieses Glück verscherzt ist. Ich wüßte Dich jetzt so gut bei ihm geborgen.“

Da richtete sich Magdalene auf. „Das wäre seit heute doch vorbei. Der Vater hat seines Amtes gewaltet und wird auch hinfüro sich nicht darin beirren lassen. Aber es wird ihm widerfahren wie allen, die mit der Wahrheit bei denen anklopfen, die nur die Schmeichelei zu hören gewohnt sind. Er wird endlich von Amt und Brot kommen. Auch“ – sie hielt inne: sie hatte „Christian“ sagen wollen – „auch Herr Struve hat ernste Folgen vorausgesehen. Ihn mit in das Schicksal unserer Familie ziehen, mich ihm als Last aufbürden, das wäre unserer, wäre meiner nicht würdig. Mein Platz ist jetzt an Eurer Seite, und ich hoffe zu Gott, daß ich wenigstens in Zukunft den rechten Weg, ohne zu schwanken, finden werde.“

Dann ging jede in ihre Schlafkammer, „um den Kirchenstaat abzulegen,“ sagten sie; in Wahrheit aber, um in einem stillen Gebet Kraft zu erringen. –

Auch Struve kehrte zurück in sein großes schönes Haus.

Es war ihm noch nie so öde vorgekommen wie jetzt. Die Menschen wissen oft selbst nicht, wie sehr ihre Phantasie ihre Umgebung belebt mit Gestalten, sie verschönt, bereichert. Sie merken’s erst, wenn der holde Zauber vorüber. Das Licht in der magischen Laterne war ausgelöscht.

Selbst sein anhängliches Gesinde machte lange Gesichter: vorüber die Hoffnung auf Hochzeit, auf alle die fröhlichen Feste, die Familien feiern.

Und neben dem Herzenskummer begleitete ihn noch eine andere nagende Sorge: am heutigen Tage lief die Frist ab, die Weimar in seinem Ultimatum gesetzt hatte.

Schließlich ging auch dieser Tag zu Ende. Tief verstimmt legte Struve sich nieder und schloß die brennenden Lider.

Da sah er aus der Dunkelheit das stille blasse Gesichtchen Magdalenes wie heute aus dem braunen Kirchenstuhl hervorschauen, unsäglich wehmütig, immer blasser werdend, zurückweichend – in die Ferne entschwindend. Er wollte rufen – die Zunge war ihm wie gelähmt.

Dann fuhr Kiliane im Wagen, daß die Hufschläge ihn im Kopf dröhnten, durch die Stube. Lachend, schäkernd zerpflückte sie alle seine wichtigen Aktenstücke, die wohlgeordnet auf dem Schreibpult lagen, und dazu hob Bärbchen Marei einen Triller an, immer stärker, immer lauter, daß er auffuhr.

Was waren das für unziemliche Träume von einem verständigen Mann mit rechtschaffenen Sitten?

Aber der Triller hielt an – der Morgen schien herein: es war Trompetengeschmetter!

Er warf sich schnell in sein Hauskleid und stürzte erschrocken an das Fenster.

Eben entschwand der Reiter um die Ecke: er trng die weimarischen Farben.

Der Kurier hatte die Nacht hindurch reiten müssen, um den Beginn der Feindseligkeiten anzuzeigen.

Das Schicksal hat eben seine besondere Art, die Menschen über ihre Leiden zu erheben: es legt ihnen noch schwerere auf, welche sie die ersten vergessen lassen.


In dem hohen Conseilsaal, von dessen Gobelinbehang die gelassenen Züge des weisen Salomo still herniederschauten, reihten sich um die grüne Tafel die zum Geheimenrat berufenen Würdenträger.

Am untersten Ende saß der Geheimsekretarius Struve, den Blick voll Mißachtung auf die lässigen Räte gerichtet.

Mit einer Miene, die aus Bestürzung, Niedergeschlagenheit und Verlegenheit zusammengesetzt war, sagte der Kanzler: „Der Versuch, durch Hinzögerung Weimar nach und nach gefügiger zu machen, ist fehlgeschlagen. Der Kurier hat ein Schreiben des Herzogs gebracht, darin er erklärt, den Knoten mit dem Schwert zerhauen zu wollen.“

„Unerhört! mit Waffengewalt den ruhigen harmlosen Nachbar zu bedrohen!“ tönte es klagend um die Tafelrunde. „Welche Verlegenheit!“ „Was sollen wir thun?“

„Es muß sofort ein Kurier mit einem unterthänigen Pro memoria nach Aachen geschickt werden,“ stotterte ein Hofrat.

„Der braucht sechs Tage hin, sechs Tage her,“ antwortete verzweifelt der Rentamtmann, den Schweiß von der Stirn trocknend. „Unterdessen haben wir den Feind längst hier und sind schon halb aufgefressen.“

„Dann wollen wir in Weimar die Abwesenheit des Fürsten melden und unterthänigst um Aufschub bitten,“ riet schlotternd ein Kammerrat.

Der Kapitän der Schloßwache lachte in seinen steif gewichsten Bart. „Das ist nicht Kriegsbrauch. Sie werden sich hüten und warten, bis wir mit allem fertig sind.“

„So werben wir Bundesgenossen,“ ließ sich eine bebende Stimme vernehmen. „Gotha zum Beispiel.“

„Das ist zu groß für uns,“ wehrte vorsichtig eine ebenso ängstliche ab.

„Es dürfte uns gehen wie dem Frosch, der Schutz beim Storch suchte. Aber Hildburghausen hat auch ein Kriegsheer auf die Beine gestellt.“

„Von Generälen, Obersten, Majors und höchst distinguierten Uniformen für die Mannschaften in blau und karmoisin; aber es stecken keine Kerle drin,“ brummte der Schloßhauptmann.

„Und kann uns kein anderer Hof mit einem Zug Gardereiter zu Hilfe kommen?“ klang es wie ein Notschrei.

„Gardereiter haben meistenteils bequastete Spieße aber keine Pferde; nur kleine Kinder reiten auf Stöcken,“ schallte es dagegen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_631.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)