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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Hm, hm,“ machte der Kanzler. „Solche Erwägungen dürfen wir zur Ruhe stellen. Schutz- und Trutzbündnisse abzuschließen – davon steht nichts in meinen Vollmachten.“

Der hohe Rat war ratlos.

Struve saß vor seinem Stoß starken grauen Aktenpapieres, ohne die Feder zum Protokoll zu rühren.

Diese Stunde, wo er im Namen der Regierung, der er diente, tiefste Demütigung empfand, war für ihn zugleich die Stunde einer Erleuchtung. Er sah ein, daß weltliche Ordnungen, die ihm bisher unverletzlich erschienen waren, zusammen brechen konnten wie morsche Stäbe.

„Nun, was rät Er?“ fragte der Justizienrat. „Er ist doch sonst immer mit Mund und Feder bei der Hand.“

Struve stand rasch auf und sprach: „Wir müssen allsogleich einen Boten nach Sondershausen abordnen. Die nächsten Agnaten sind auch am nächsten am Geschick unsrer Landschaft beteiligt. Ihre Pflicht und ihr Vorteil heischen gleichermaßen, dafür mit einzutreten, daß selbige nicht verarmt. Der Erbprinz Günther ist nicht nur ein weiser, sondern auch ein entschlossener Herr. Er wird ohne Zögern in Weimar sich für uns verwenden, und man wird seinem Wort Gehör schenken, da es Aussicht auf eine Verständigung in der kommenden Zeit eröffnet. Und diese Hilfe ist rasch erreichbar. Nach Sondershausen kommt unser Kurier in einem Tag. Ebenso schnell kann eine Botschaft von dort gen Weimar gelangen.“

Einen Augenblick saßen die Herren still, überlegend. Aber immer bedenklicher spannten sich die Brauen. Ein Schütteln der Perücken begann, ein abfälliges Murmeln, das in den Worten endlich sich Luft machte: „Den Nachfolger anrufen?“ „Es würde als Konspiration mit dem nächsten Erben gegen unsern Herrn aufgefaßt werden!“ „Wir würden in die tiefste Ungnade fallen!“

Struve fuhr glühend empor. „Was will eine Ungnade besagen gegen das Bewußtsein, weibisch furchtsam seiner Pflicht gefehlt zu haben? Die Seufzer derer auf sich geladen zu haben, zu deren Schutz und Schirm man bestellt ist, von deren Steuern man bezahlt wird. Wer den Titel Rat führt, der sollte eingedenk sein, daß ihm obliegt, dem Herrn des Landes, der nicht wie Gott allwissend und allgegenwärtig ist, aufklärend und zum Rechten zuredend zur Seite zu stehen – nicht aber ein Jaknecht zu sein.“ Er schleuderte das Wort, vom Zorn übermannt, in die Versammlung hinein.

Hochauf fuhren auch die andern. „Beschimpfung der Vorgesetzten!“ „Gelbschnabel!“ „In Arrest schicken!“ stürmte es durcheinander.

„Es war keine bestimmte Beschuldigung, nur allgemeine Reflexion,“ wehrte der Kanzler, entsetzt, daß man sein Arbeitspferd einsperren wollte.

„Die Herren sehen,“ fuhr Struve mit erhobener Stimme fort, „daß mit Schweigen ein Recht nicht aus der Welt geschafft wird. Und wie Sie auch sich wehren mögen, das Ende wird doch ein gütlicher Vergleich sein. Man wird Opfer bringen müssen, um dasselbige abzulösen.“

„Schweig’ Er mit Seinen landesverräterischen Anschlägen,“ krähte der Justizienrat.

Der Kanzler schnitt abermals die Diskussion ab. Voll Würde an seiner langen Nase herabsehend, sagte er: „Kommen wir zur Sache. Ein Pro memoria für Seine Durchlaucht auszuarbeiten, liegt dem Herrn Hofrat ob.“

Struve krampfte die Finger um seinen Gänsekiel. Durch den Hofrat hatte er das Wort „Schneckengang der Justiz“ begreifen lernen.

„Ferner haben wir die Milizen einzuberufen, daß sie ihrer Pflicht gemäß das Land schützen, soweit ihre Kraft reicht. Herr Kriegsrat, das ist Seines Amtes. Benachrichtige Er die Offiziere des Defensionswerkes: den Hauptmann und Mehlhändler, die Lieutenants, als da sindt der Beutlermeister, der Leineweber und der Schlosser, und halte Er Beratung mit ihnen. – Einer der Herren muß auch nach der Augustenburg fahren und Ihro benachrichtigen von der drohenden Kriegsgefahr. Ich ersuche den Herrn Schloßhauptmann, diesen Auftrag zu übernehmen. Sonst haben wir in beregter Sache für jetzt nichts mehr zu thun.“

Er verbeugte sich zur Entlassung.

Die zornglühende Stirne über seinen Stoß Papier beugend, schrieb Struve mit vor Empörung fliegenden Fingern das Protokoll und die gefaßten Beschlüsse nieder.

Von den hochmögenden Räten wurde er keines Blockes gewürdigt.


Krieg! Das Wort durchlief die Stadt. Alle alten Greuelgeschichten des Dreißigjährigen Krieges wachten wieder auf. Die schrecklicheu Historien von den Einfällen der Franzosen in der Pfalz, von dem Zug der Türken bis vor Wien, die vor ein paar Jahrzehnten die Menschen mit Entsetzen erfüllt hatten, gingen wieder von Mund zu Mund. Hießen doch noch alle Bluthunde an der westlichen Grenze nach dem französischen General Melac, wurde doch noch immer im Kirchengebet Schutz gegen die Türken erfleht.

Der alte Stelzfuß, der als Reiterbube die letzten Jahre des Dreißigjährigen Krieges mitgemacht hatte, war die gesuchteste Persönlichkeit.

Bei seiner Abendpfeife am Thorturm, den er als Ruheposten bewohnte, um Feuersbrünste durch Stürmen anzuzeigen, umlagerte ihn ein großer Kreis, der atemlos lauschte, wie die Kroaten kleine Kinder am Spieß gebraten hatten. Es mußte aber bald zum Klappen kommen; denn der Stelzfuß war bereits bei Kriegsvölkern des fernen Ostens angelangt, welche stählerne Schnäbel und Klauen hatten und mit Ketten gefesselt waren, bis sie auf den Feind losgelassen wurden. Eine Steigerung war kaum denkbar.

So rasch die Kriegsereignisse in den Erzählungen der Einwohnerschaft vorwärts schritten, so langsam rückten die Verteidigungsanstalten der Residenz von der Stelle.

Der alte Schloßhauptmann ließ täglich an der verrosteten und verquollenen Zugbrücke der Neidecke ölen und schrauben. Sie wich und wankte nicht.

Die Leibgardisten verstanden wohl den Spieß bei Staatsaffairen zu pflanzen, nicht aber ihn zur Verteidigung des Schlosses, die ihnen oblag, zu fällen. Die Milizen verantworteten sich, sie könnten ihre Kraut- und Rübenäcker nicht unbestellt lassen; die Schornsteine müßten doch gefegt werden, „auf daß der Stadt kein Schaden geschicht“.

Als sie dann mit längst veralteten Waffen aufzogen, wurde männiglich klar, was eigentlich die Benennnug Spieß- und Schildbürger bedeutete.

Der Stadtlieutenant ließ zwar Schwanzkugeln gießen und prahlte: „Ich schieße die Weimarischen, daß ihnen der Rauch aus dem Hals geht!“ und der ergraute Stadtwachtmeister ließ seinen großen Säbel schleifen und rückte seinen Dreispitz auf Krakehl. Aber als man endlich die Stadtsoldaten hinter ihren Wollspinnrädern hervorgebracht hatte, thaten sie sich auch nur durch die roten Nasen hervor, die sie durch eifrige Inanspruchnahme von gebranntem Magenwasser sich zugezogen hatten. Die Schlösser an ihren alten Musketen gingen entweder nicht auf oder nicht zu.

Da wurden die weniger gangbaren Thore vermauert, damit nicht eine Zersplitterung der Streitmacht stattfand.

Denn also war es zu jener Zeit bestellt um die Wehrhaftigkeit des heiligen römischen Reiches deutscher Nation.

Nächtlicher Weile drang Schaufelklang aus den Kellern und Gärten.

Auch der Superintendent begab sich eines Tages mit Kirchner und Kastenknecht ganz in der Stille nach den Gruftgewölben der Kirche hinab, um altem Brauch gemäß die goldenen und silbernen Altargeräte unter morschen Holztruhen und kupfernen Särgen zu verbergen.

Da tönte gedämpft von oben Orgelklang und Gesang herab. Die Kirchendiener erschraken und horchten. War das auch Spuk?

Aber als sie langsam empor stiegen aus den Räumen des Moders wurde der Schall immer stärker und klarer.

„Alles, was Odem hat, lobet den Herrn!“ jubilierte eine hohe Stimme, und die Orgel umschlang die Melodie mit so behendem Tongerank, als tanze ein Riesengeschöpf aus der Urzeit einen fröhlichen Reigen.

Das waren doch nicht die kleinen Kurrendeschüler, mit denen der Kantor musizierte!

Aufs äußerste befremdet, betrat Olearius durch die Pforte des Kreuzganges sein Gotteshaus.

„Ruhe!“ gebot er mit mächtiger Stimme.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_634.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)