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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

werden können: das Kind wird taubstumm, es lernt überhaupt nicht sprechen.

Taubstummheit kann aber auch, wie unser zweiter Fall zeigt, als spät erworbene auftreten, wenn ein Kind nicht nur zu sprechen begonnen, sondern sogar schon die Sprache geläufig beherrscht hatte; dies tritt ein bei einer Ertaubung im Alter von etwa sechs, sieben Jahren.

Aber wie kann das sein, fragst du, daß eine einmal vorhandene Sprachfähigkeit wieder völlig erlischt?

Der Grund hiefür ist einfach genug. Es sind bei einem Kinde in dem genannten Lebensabschnitte die Bahnen, wenn ich mich so ausdrücken darf, noch nicht so ausgetreten, so gründlich begangen, es haften die Erinnerungsbilder noch nicht so unverrückbar fest in ihrem Centraldepot; es werden, wie ein nicht mehr gebrauchter Weg auf einer Wiese von Gras überwuchert wird und bald unerkenntlich ist, die vorhandenen Erinnerungsbilder mehr und mehr erblassen, da von außen keine neuen mehr eingeführt und die alten nicht wiederholt werden, bis sie endlich infolge des Reizmangels gänzlich verschwinden; die Nervenbahnen werden des Leitens mehr und mehr ungewohnt, sie veröden.

Sehr falsch wäre es, glauben zu wollen, daß bei solch taubstumm Gewordenen gleichwie bei den taubstumm Geborenen irgend etwas am Stimmapparate fehle, was beim Volke oft seinen fälschlichen Ausdruck findet in dem Angewachsensein der Zunge, weshalb „die Zunge gelöst werden müsse“, etwa wie bei einem Star, dem man das Sprechen beibringen will; der Kehlkopf, die Stimmbänder, die Zunge, das alles ist für gewöhnlich bei einem Taubstummen völlig normal in Ordnung und doch kann er nicht sprechen.

Die Sprache wird durch das Ohr beherrscht, geleitet; das Ohr lehrt uns die unendliche Modulationsfähigkeit unseres Stimmorganes; ein schöner Gesang, ein guter ansprechender Vortrag ist nur dem möglich, der im Vollbesitz seiner Gehörsfunktion ist.

Man mag mir da vielleicht entgegenhalten, Beethoven, der große Heros, war ja auch taub und hat trotzdem noch seine wunderbaren musikalischen Tonwerke zu schaffen vermocht. Gewiß war Beethoven in späteren Jahren, nachdem sich die Erkrankung schon frühzeitig in geringerem Grade eingestellt hatte, taub. Er hat auch seine eigenen Werke nicht mehr hören können, aber bei ihm waren die Tonbilder in all ihren feinsten, nur denkbaren Abstufungen mit einer solchen wunderbaren, unverwischbaren Klarheit noch zur Zeit des guten Hörens eingeprägt worden, daß die Erinnerung an sie in Verbindung mit der ihm eigenen echt künstlerischen Genialität es ihm ermöglichte, alles innerlich Erlebte, musikalisch wiedergeboren, in die wahre, hehre, mit ergreifender Macht auf das Gemüt des Hörers eindringende Formgestaltung zu bringen.

Wäre aber bei Beethoven diese Taubheit nicht erst im gereiften Alter bei lange völlig intakt entwickeltem Organismus aufgetreten, sondern schon in früher Kindheit, so wäre der große Künstler, der selbstschaffende, formende Genius unfehlbar überhaupt nicht zur Entwicklung gelangt: wir hätten nie einen Beethoven unser eigen nennen können.

Indes müssen wir immer festhalten, Beethoven war eine jener genialen gottbegnadeten Ausnahmenaturen, denen eben manches gelingt, was einem gewöhnlichen Durchschnittsmenschen in seiner Lage nicht mehr zu erreichen möglich ist.

Uebrigens wäre man sehr falscher Meinung, wollte man glauben, das Leiden habe keinen Einfluß auf die Schaffenskraft und besonders auf die Schaffensfreudigkeit des Tonheros gehabt; diese Taubheit war der böse Dämon, der Fluch, der ihn der Verzweiflung nahe brachte, der aus ihm einen mißtrauischen, einsamen Mann machte, dem beinahe jede Lebensfreude vergällt schien.

Welch’ gewaltigen Einfluß das Ohr auf die Sprache, ja auf das ganze Thun und Lassen, auf die ganze Existenz hat, können wir noch häufig genug bei Erwachsenen, die infolge irgend welcher Erkrankung hochgradig schwerhörig oder taub geworden sind, beobachten. Während beim Kinde sich die Sprachfähigkeit völlig verliert, indem die Stimme, mehr und mehr rauh, bis zur unartikulierten, tierischen Stimmgebung herabsinkt, sehen wir beim Erwachsenen, meist nicht gar lange Zeit nach Verlust des Gehörs, die Sprache ganz gleichmäßig eigenartig monoton werden, es fehlen alle Hebungen und Senkungen des Rhythmus, dazu wird sie noch recht oft hackend, skandierend, stockend, so daß man einen derartigen Patienten sofort erkennt, sobald er nur den Mund aufmacht. Dabei verfallen solche Personen sehr leicht in zwei Extreme; die einen schreien unnatürlich, ohne Veranlassung laut, da sie annehmen, andere Menschen verständen ebenso schlecht wie sie selbst, oder aber, andere wieder sprechen übermäßig leise in dem Glauben, sie steigerten ihre Stimme in einer für den Durchschnittsmenschen unangenehmen Stärke. Aber auch in geistiger, psychischer und moralischer Beziehung äußert die Taubheit einen sehr ungünstigen Einfluß; es macht sich bei allen Tauben eine gewisse Aengstlichkeit, außerordentliche Empfindlichkeit, Mißtrauen und Mißmut neben einer gewissen Unklarheit und Verschwommenheit bemerkbar, was eben alles einfach ein Resultat des Bewußtseins ihres Zustandes ist; sie halten sich für nicht vollwertige Menschen und sind deshalb zuweilen ungerecht gegen sich und andere. Sie geraten deshalb in den Ruf, boshaft, bösartig oder beschränkt und verstockt zu sein, obschon sie thatsächlich nichts weniger als das sind.

In Wirklichkeit sind sie arme bemitleidenswerte Menschen, sie sind „vom Menschlichsten im Leben, vom Leben mit den Menschen“, von dem harmonischen Zusammenwirken mit unserer Mitwelt bis zu einem gewissen Grade ausgeschlossen, es wird ihnen das Dasein, der Lebensgenuß in einer bitteren Weise vergällt, ganz abgesehen von den schweren Folgen, die durch das Nichtmehrausübenkönnen eines Berufes und dergleichen erwachsen können.

Kehren wir zu unseren Taubstummen zurück und werfen, ehe wir zum Schlusse kommen, noch einen kurzen Blick auf die Verbreitung der Taubstummheit überhaupt, der angeborenen sowohl als der erworbenen.

Nehmen wir die Bevölkerung der gesamten Erdoberfläche zu 246 Millionen Menschen an, so hat sich an der Hand der statistischen Untersuchungen ergeben, daß sich hierunter 191000 Taubstumme befinden; es treffen also im Durchschnitte auf je 10000 Menschen 7,7 Taubstumme. Den niedrigsten Prozentsatz mit 3,35 Taubstummen auf je 10000 Einwohner zeigen die Niederlande, den höchsten die Schweiz mit 24,5; Deutschland steht mit 9,66 dieser Unglücklichen auf je 10000 seiner Bewohner ebenso wie Oesterreich etwas über der Durchschnittsziffer. Gewiß recht bedeutende Zahlen! Als Eigenheiten dürfen wir nicht unerwähnt lassen, daß das männliche Geschlecht im allgemeinen überwiegt und daß die Taubstummheit in Gebirgsgegenden häufiger zu finden ist als auf dem Flachlande.

Und nun fragst Du mich zum Schlusse, kann man denn einem solch’ furchtbaren Leiden nicht abhelfen, nicht vorbeugen?

Bis zu einem gewissen Grade lassen sich beide Fragen bejahen.

Wenn wir auch den verheerenden Folgen einzelner das Ohr betreffenden Erkrankungen wie Gehirnhautentzündung, Mumps so ziemlich machtlos gegenüberstehen, so könnte und kann doch noch viel gerettet werden durch eine sorgsame Ueberwachung und durch eine geradezu peinlich durchzuführende Schulung des etwa noch vorhandenen Restes von Gehörsinn, indem man mit solchen armen Kleinen tagtäglich häusliche Sprachübungen anstellt, ihnen langsam, laut und deutlich zuerst nur die Vokale vorspricht und dann langsam allmählich auf Worte, die die Namen von in der Umgebung befindlichen Gegenständen, Personen, Tieren bezeichnen, übergeht; dabei soll immer auf den betreffenden Gegenstand mit dem Finger gedeutet und das Wort so lange wiederholt werden, bis es wirklich nachgesprochen ist. Es ist wunderbar, welch günstige Erfolge man da noch, freilich nur bei niemals erlahmendem Fleiß und Eifer, erzielen kann; aber Geduld erheischt es, und wieder Geduld und dann erst recht die Geduld eines Engels! Das wäre vor allem die Aufgabe der Mutter eines solch unglücklichen Kindes; sie kann es vielleicht dadurch noch der drohenden geistigen Nacht entreißen. Und überhaupt ist diese Methode, bei der man zugleich die Kinder lehren kann, die Lautbildung von den Lippen abzulesen – eines der Haupthilfsmittel aller hochgradig Schwerhörigen und Tauben – die beste, einfachste, sicherste und erfolgreichste, aber auch mühevollste!!

Viel besser dran sind wir bei den z. B. nach Scharlach entstandenen Gehörleiden; hier kann eine zur rechten Zeit richtig eingeleitete ärztliche Hilfe außerordentlich viel erreichen, ja in vielen Fällen kann das Gehör, auch wenn es schwer erkrankt gewesen war, wieder ganz oder wenigstens nahezu ganz hergestellt werden; es kann hier der Taubheit und mit ihr der Stummheit vorgebeugt werden. Leider aber geschieht dies nur in einer verhältnismäßig geringen Anzahl; man sieht den Ohrenfluß sogar für etwas Heilsames an, das die bösen Säfte vom Körper ableitet und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_638.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2024)