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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Es war ein sonniger Morgen, mit mehr Frische als Wärme in der Luft. Um die Gipfel der grauzackigen Berge, die im Kranze das enge Hochthal umschrankten, zogen, gleich dünnen weißen Schleierfetzen, kleine Gewölle hin und wieder. Die Tannen, die vom winzigen See inmitten der Thalsohle noch ein Streckchen bergan stiegen, standen kerzengerade und regungslos; Winde ließen die Felsenwächter nicht in diese schmale Tiefe. Die Natur hatte hier zu ihrem Bilde nur graue, grüne, weiße Farben gewählt und den leuchtend blauen Himmel darüber gespannt.

Als René Flemming vor vier Wochen angekommen war, hatte er entsetzt zu der Wirtin gesagt: „Auf ein bißchen mehr Originalität glaubte ich doch hoffen zu dürfen. Die Gegend habe ich ja schon tausendmal gesehen. Unter anderem noch zuletzt auf dem Neuruppiner Bilderbogen, den der Sohn meiner Hausfrau hat, und auf dem Oeldruck, der bei meinem Schuster an der Wand hängt. Wissen Sie, meine Gute, hier bleibe ich nicht.“

Und nun studierte er schon die vierte Wochenrechnung. Sieben Tage Pension à 7 Franken – Sonntag den 19. August 5 Liter Veltliner? Donnerstag den 23. noch einmal 5 Liter Veltliner? Er besann sich. Am Sonntag waren ein paar lustige italienische Burschen dagewesen und hatten mit Gesang und Mandoline konzertiert. Und am Donnerstag zogen einige stämmige Kerle vorbei, Holzfäller, die mit rauhen Kehlen beleidigend johlten.

Das Bemühen Renés, die Zahlen der merkwürdig großen Rechnung zu addieren, war ein wiederholtes aber immer vergebliches.

Sein Ohr horchte auf den einzigen Laut, der die Morgenstille durchdrang. Neben dem Hause, rückwärts, da wo die aufsteigende Berglehne einem kleinen Wirtschaftshof Raum bot, hämmerte der Hausknecht an einem Faß die Reifen fest. Er that immer vier Schläge hintereinander, und die hallten stark und klingend durch die Luft.

René pfiff einigemal summend im Takte mit! Die Regelmäßigkeit des Geräusches ärgerte ihn. Plötzlich schwieg es. Aber der Nachhall lag ihm im Ohr und in seiner Phantasie wandelte es sich plötzlich, erhielt einen besonderen Rhythmus und ward ein scharfes, herrisches Motiv.

Er erhob das Haupt, sah einige Sekunden ins Leere, mit einem gesammelten, sehr aufmerksamen Gesichtsausdruck, wie jemand, der nach innen horcht, und griff dann nach einem Bleistift, der neben seiner Tasse gelegen hatte. Die Rückseite der Rechnung bedeckte sich mit Noten.

Unterdessen trat die Wirtin aus der Thür, die vom Innern des Hauses in die Veranda führte. Sie sah ihren Pensionsgast schreiben und wartete respektvoll, wobei sie die Hände vor dem Magen faltete.

Dann, als René den Bleistift fortlegte, kam sie breit und behäbig näher, ein Lachen im glatten Gesicht.

„Frau Wirtin,“ sagte René, „dies ist eine Urkundenfälschung.“

Er wies auf den Kopf der Rechnung, allwo „Hotel und Pension Seehof“ in schloßartiger Pracht abgebildet war, mit einer Terrasse davor, auf welcher ein Springbrunnen emporsprudelte zwischen üppigsten Blumenanlagen. In Wirklichkeit glich das saubere, außen und innen mit hellem Holz getäfelte Haus einem landläufigen Schweizerhaus in etwas größeren Raumverhältnissen und in Wirklichkeit war das kleine Plateau vor dem Hause mit schwärzlichem Steingeröll bedeckt, von wo ein gänzlich ungepflegter, abschüssiger kurzer Pfad zu dem kleinen See hinabführte.

„Wir hoffen eben,“ meinte die Frau, „daß wir’s mit der Zeit einmal so herrichten können.“

„Nun, wenn hier erst ein Springbrunnen ist, komme ich gewiß nicht wieder und so ist dies vermutlich die letzte Wochenrechnung, die ich in meinem Leben an Sie zahle,“ sagte René mit ernsthaftem Gesicht.

„Ach, der Herr Hofkapellmeister machen alleweil Spaß,“ sprach sie. „Sie werden doch noch bleiben?“

Er stand auf und reckte sich.

René Flemming war ein großer, schlanker Mensch; sein heller Sommeranzug, zu dem er keine Weste, sondern ein weißseidenes Hemd mit faltigem Gürtel trug, gab ihm etwas Burschikoses. Sein dunkles Haar, im Nacken kurz verschnitten, lag ein bißchen wirr über der Stirn. Die gebräunten Farben standen dem klugen, energischen Gesicht wohl an; um den feinen Mund, der sich mit schmalen Lippen fest zu schließen pflegte, spielte ein Lächeln und aus den dunklen, großen Augen blitzte fröhlichste Lebenslust.

Er griff in die Tasche und holte eine Hand voll Geld heraus: Gold, Siber, Nickel – französisches und deutsches Geld durcheinander.

„Schauen Sie ’mal nach, Wirtin, ob’s noch reicht.“

Die Wirtin fing an, mit dem Zeigefinger die Zwanzigfrankenstücke herauszusondern.

Renés feines Ohr hörte dann plötzlich ein Rauschen und Knistern. Er wandte sich um.

„Richtig,“ rief er, „diese winterliche Musik konnte nur die eine verursachen.“

Er ging einer Dame entgegen, die in majestätischer Trauerkleidung herankam. Die Dame trug den Kopf, der für die große, volle Gestalt fast zu klein erschien, sehr hoch. Die vorspringende Nase, die lebhaften grauen Augen gaben dem etwas blassen Gesicht einen kühnen Ausdruck, wie auch Gang und Haltung von ungewöhnlichem Sicherheitsgefühl zeugten.

Sie ließ sich die Hand küssen und sah ihm mit einer heiteren, mütterlichen Zärtlichkeit ins Gesicht.

„Guten Morgen, René. Ah, man rechnet? Ein trüber Moment.“

„Ein vollkommen gleichgültiger,“ sagte er lachend.

Die Wirtin hatte sich ihren Betrag herausgesucht. René strich den Rest zusammen und steckte ihn ein. Im Davongehen machte die Wirtin einen nicht sehr anmutigen, aber sehr unterthänigen Knix und sprach ihr: „Guten Morgen, Madame von Eschen.“

„Die arme Frau ist von Ihrer Persönlichkeit und Ihrer rauschenden und glitzernden Trauerpracht immer ganz eingeschüchtert. Einen so vornehmen Gast hat der Seehof noch nie gesehen; Ihr Anblick fordert ja förmlich die schleunige Anlage des hier lithographierten Luxus heraus.“

Hortense von Eschen zuckte die Achseln. „Ich habe kein Talent, mich populär zu machen,“ sagte sie.

„Und ist es denn wirklich nötig, hier in dieser Gebirgseinsamkeit den alten Herrn von Eschen so pomphaft zu betrauern?“ fragte René.

Sie trat an das Geländer der Veranda, lehnte sich mit der Schulter gegen eine der Holzsäulen und seufzte ein wenig.

„Ach, René,“ sprach sie langsam, „wie oft im Leben betrauert man mit heimlichen Verzweiflungsthränen einen Verlust, ohne daß man sich ein schwarzes Kleid anziehen darf. Sie wissen doch, was der Dichter sagt: Gefühl ist alles! Zu dem alten Herrn hat mich keines hingezogen; da ich ihm den innern Tribut der Liebe nicht geben konnte, soll’s an dem äußern der Achtung nicht fehlen. Sie schau’n mich wieder so spitzbübisch an – ja wohl, mein Kind – simple schwarze Wolle thät’s auch und thäte es vielleicht besser. Aber sie kleidet so abscheulich.“

Sie lachten beide.

Hortense nahm ihren zusammengerollten Sonnenschirm wagerecht unter die Achsel und fing an, sich ihre Handschuhe anzuziehen.

„Wohin gehen Sie? Darf ich Sie begleiten? Und wo ist Magda Ruhland?“ fragte René und sah den weißen Fingern zu, die langsam an dem Leder hinstreiften.

„Natürlich sollen Sie mich begleiten, denn Sie haben mir etwas zu beichten. Ich gehe die Straße entlang, denn Sie wissen, ich hasse die Kletterei. Und bei dem Weg zur Sägemühle dürfen Sie mir Adieu sagen; weil dort unten jemand wartet, der Ihnen amüsanter ist als Ihre alte Freundin,“ sagte sie und streckte ihm die Rechte hin, damit er die Handschuhknöpfe schließe.

„Beichten!“ rief er und ein Ausdruck von Unbehagen glitt über sein Gesicht.

„Pst,“ machte sie und fuhr mit ihrer Linken leicht über seine Züge, als wollte sie den unwilligen Ausdruck fortwischen, „mir gegenüber nur keine Selbstherrlichkeit! Ich habe Sie lieb, René, und Sie sind ein toller Junge, der froh sein soll, daß er eine verständige, erfahrene Frau weiß, mit der er alles besprechen kann. Ich fürchte, ich fürchte, Sie haben mir das Herzchen meiner Magda beunruhigt. Und Magda ist – wie soll ich im Gegensatz zu all den glänzenden lustigen, lebensdurstigen Damen Ihrer Welt, der großen Welt und der künstlerischen Welt sagen? – kurz, Magda ist ein schwerer Mensch! – Also? –“

René griff nach seinem Hut und schritt ein wenig ungeduldig neben der Frau her, deren beabsichtigte Einmischung in eine Herzensangelegenheit ihm halb ärgerlich, halb erwünscht war.

„Eins begreife ich nicht,“ sagte er, „daß ich Fräulein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_670.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2022)