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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

der Pfarrkirche zu St. Agatha in Aschaffenburg, daß dort nebeneinander zwei Glocken hingen, die eine Marianne, die andere, die von Silber war, Susanne geheißen. Im dreißigjährigen Krieg raubten die Schweden die silberne Glocke, luden sie in ein Schiff und wollten sie den Main hinaufführen. Aber als sie an die Stelle kamen, wo die Stadtmauer an den Main stieß, sprang die Glocke in den Fluß und liegt noch da. Und wenn jetzt die Marianne geläutet wird, so ruft sie:

„Bimbam, bimbam, wo ist die Schwester Susann?“

und die ferne Stimme der silbernen Glocke antwortet:

„Bimbam, bimbam, da bin ich, Schwester Mariann!“

Diese Sagen beweisen jedenfalls, wie die Volksseele von früh an sich mit den Glocken beschäftigte und in ihnen gewissermaßen lebende Wesen sah. Das war nicht nur in einzelnen Gegenden der Fall; die Sage von den versunkenen Glocken findet sich überall in unserem deutschen Vaterlande, vom Bodensee bis hinauf zu den Gestaden der Ostsee, wo aus der Tiefe des Meeres die Glocken von Vineta herauftönen, die Wilhelm Müller so schön besungen hat:

Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde
Von der schönen, alten Wunderstadt.

In der Fluten Schoß hinabgesunken
Blieben unten ihre Trümmer stehn,
Ihre Zinnen lassen goldne Funken
Wiederscheinend auf dem Spiegel sehn.

Und der Schiffer, der den Zauberschimmer
Einmal sah im hellen Abendrot,
Nach derselben Stelle schifft er immer,
Ob auch rings umher die Klippe droht.



Blätter & Blüten.


Professor Steffens begeistert seine Zuhörer für den Freiheitskrieg. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) Als das Napoleonische Joch schwer auf Deutschland lag, da wußten auch Männer der Wissenschaft und Lehrer der akademischen Jugend in dem Herzen ihrer Zuhörer den Funken vaterländischer Begeisterung zu entzünden. Während draußen der Marschschritt der französischen Regimenter ertönte, hielt der Philosoph Fichte in den Berliner Hörsälen seine „Reden an die deutsche Nation", um durch geistige Kräftigung derselben eine künftige Erhebung vorzubereiten. Als aber Napoleon mit seinem geschlagenen Heer aus Rußland zurückgekehrt und General York mit der preußischen Hilfsmacht zu den Russen übergegangen war, als der König von Preußen am 3. Februar den Aufruf an sein Volk erlassen, da schlug auch die Beredsamkeit der akademischen Lehrer andere Töne an, da galt es alle Waffenfähigen in die Kriegslager, zu den Waffen zu rufen. Einer der begeistertsten Redner war Heinrich Steffens in Breslau, ein Naturphilosoph der Schellingschen Schule, Norweger von Geburt, aber in Deutschland eingebürgert, ein geistvoller Denker mit schwärmerischen Neigungen, in späteren Lebensjahren auch als Romanschriftsteller bekannt und beliebt. Der Aufruf des Königs hatte ihn aufs tiefste ergriffen. Am Morgen des 8. Februar sollte er ein Kolleg halten; er sagte zu seinen wenigen unaufmerksamen Zuhörern: „Ich sollte um elf Uhr einen zweiten Vortrag halten, ich will aber dann mit Ihnen über einen Gegenstand sprechen, der von größerer Wichtigkeit ist. Se. Majestät hat die Jugend aufgefordert, sich freiwillig zu bewaffnen. Dieser Aufruf wird noch heute an Sie ergehen; er wird der Gegenstand meiner Rede sein. Machen Sie meinen Entschluß allenthalben bekannt; ich erwarte so viele als der Raum fassen kann." Als er nach zwei Stunden wiederkam, war der Hörsaal gedrängt voll; in den Fenstern, der geöffneten Thür, im Flur, auf der Treppe, bis weit in die Straßen hinein, wimmelte es von Menschen. Alt und jung hatte sich versammelt, Studenten, Beamte, Bürger, Arbeiter. Das Bild von Arthur Kampf zeigt uns anschaulich diese vielköpfige aus allen Ständen gebildete Hörerschaft. Steffens, der ja eine eingehende Selbstbiographie herausgegeben, berichtet über seine Anrede: „So trat ich unter die Menge und bestieg mein Katheder. Was ich sprach, ich weiß es nicht; selbst wenn man nach dem Schlusse meiner Rede gefragt hätte, ich würde keine Rechenschaft davon haben ablegen können. Es war das drückende Gefühl unglücklich verlebter Jahre, welches jetzt Worte fand; es war das warme Gefühl der zusammengepreßten Menge, welches auf meiner Zunge ruhte. Nichts Fremdes verkündete ich. Was ich sagte, war die stille Rede aller und sie machte eben deswegen wie ein Echo aus der Seele eines jeden einen tiefen Eindruck. Daß ich, indem ich die Jugend so aufforderte, zugleich meinen Entschluß erklärte, mit in den Kampf zu ziehen, versteht sich von selbst." In der That ließ sich der vierzigjährige Professor Steffens mit 200 Studenten bei den freiwilligen Jägern einschreiben und er machte den Feldzug von 1813 und 1814 bis zum Einmarsch in Paris mit. Als der Professor sich bei dem Schöpfer der preußischen Landwehr, Scharnhorst, meldete, sagte dieser zu ihm: „Steffens, ich wünsche Ihnen Glück; Sie wissen nicht, was Sie gethan haben." Damals ging von Breslau die nationale Erhebung aus.

Das lebensvolle Bild von Arthur Kampf läßt uns auch den tiefen Eindruck erkennen, den die begeisterte Rede des Professors auf seine Hörer machte: neben den aufmerksam Lauschenden, den freudig Begeisterten sieht man auch viele Gesichter, in welche sich tief der Unwille und die Verbitterung über die langerlittene Schmach eingegraben und die sich kaum dem Strahl einer freudigen Hoffnung zu erschließen vermögen.†     

Ein neuer Schachkönig. Das bedeutendste aller bisherigen internationalen Schachturniere fand im Monat August in Hastings am englischen Südstrande statt: die Augen der Schachfreunde der ganzen Welt waren auf das Turnier gerichtet, wo die berühmtesten Schachkämpen der Gegenwart, Tschigorin, Tarrasch, Steinitz, Lasker, Blackburne u. a., sich im hartnäckigen Kampfe maßen. Fast jeder Schachspieler hatte einen Kandidaten für den ersten Preis in Aussicht genommen, je nach seiner Ueberzengung von der Bedeutung des berühmten Spielers, dem er die Siegeskrone aufs Haupt zu setzen hoffte. Und da es beim Schachspiel nicht allein auf die Kunst des Spielers ankommt, sondern auch auf das Schlachtenglück, das sich oft recht launisch erweist durch kleine Unfälle, womit es die Kämpfer heimsucht, so war auch hier für Wetten jeder Art die schönste Gelegenheit geboten. Indes gewann keiner der anerkannten Meister den ersten Preis, sondern ein junger, zweiundzwanzigjähriger Nordamerikaner, Pillsbury, aus Boston gebürtig, welcher die ruhmreichsten Veteranen des Schachspiels besiegte. Pillsbury hatte bei dem New Yorker Meisterturnier im letzten Jahre über neun Mitstreiter den Sieg errungen; doch hatte ihm wohl niemand das Horoskop gestellt, daß er in Hastings den ersten Preis davon tragen würde; er scheint als zweiter Morphy das Sternenbanner auf den Feldern des Schachbretts zu Ehren zu bringen. Sehr heiß war der Kampf um die ersten Preise und die Entscheidung schwankte hin und her, je nachdem einer oder der andere der höchststehenden Preiskandidaten von einem der zunächst Nachdrängenden geschlagen wurde. Bald stand Tschigorin an der Spitze, bald Lasker, bald Pillsbury, welcher zuletzt die Oberhand behielt, nachdem Tarrasch Lasker geschlagen hatte. Dieser erhielt den dritten, Tschigorin den zweiten Preis; als vierter Preisträger folgte Tarrasch, der Sieger in den vier letzten großen Turnieren, als fünfter Steinitz, der lange Zeit das Schachscepter der Welt gehalten hatte, bis zwei junge Stürmer und Dränger es ihm entrissen. Bei der Verteilung der Gewinne wie bei der Reihenfolge der Preissieger hat natürlich auch der Zufall seine Hand im Spiele. Sicher aber und vom Zufall unabhängig ist der große Gewinn, den das Schachspiel selbst durch die ausgezeichneten Leistungen der Meister, durch ihre Musterpartien davonträgt. Neue Wendungen der Eröffnung, neue Spielweisen, neue glänzende Kombinationen, besonders im Endspiel, wirken gesetzgeberisch auf die Theorie und anregend auf die Erfindungskraft aller übrigen Schachspieler.†     

Entwischt. (Zu dem Bilde S. 669.) Zweifellos ist von allem heimischen Getier Meister Reineke am bekanntesten und jedermann weiß dies oder jenes von seinen Thaten zu erzählen. Aber Wahrheit und Dichtung haben ihn in einer Weise verherrlicht, daß kaum der Jäger, der doch oft Gelegenheit hat, ihn zu beobachten, die poetische Umhüllung von seinem Lebensbilde abzustreifen weiß. Von allen seinen Eigenschaften ist es die Schlauheit, die am meisten hervorgehoben wird und ihn in einem Lichte erscheinen läßt, als stände er in Bezug hierauf dem Menschen nahe oder überträfe ihn sogar noch. Zweifellos handelt er öfters mit Ueberlegung und es macht seinem Verstande alle Ehre, daß er sich z. B. tot stellt, wenn sein teures Ich in großer Gefahr schwebt, und dann im günstigen Augenblicke seinen Balg zu retten weiß. Allein seine Veranlagung steht doch in anderen Punkten der manchen Wildes nach.

Reineke kann z. B. den an einem Baum lehnenden oder auch unbeweglich frei sitzenden Jäger nicht erkennen, während das Alttier (Hindin) und die Ringeltaube sofort durch ihre Flucht bekunden, daß sie die Gefahr erkannt haben. Ich sah einmal vom Deister aus auf weite Entfernung einen Fuchs im Felde mausen. Um so nahe heranzukommen, daß ich ihn „reizen", d. h. durch Nachahmen von Hasengeschrei heranlocken konnte, mußte ich durch einen Hudekamp, der rings von dichten Hecken umschlossen war. Durch diese führten zwei Triftlücken. Mitten im Kampe sah ich, daß Reineke ventre á terre auf die untere Einfahrt zu galoppierte, er war von einem Dünger fahrenden Bauern durch Peitschenknall beim Mausen gestört. Rasch entschlossen kniete ich nieder, stützte den linken Ellbogen aufs Knie, stach die Büchsflinte ein und erwartete meinen Freund. Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten – aus seiner raschen Gangart war Trab geworden und er kam durchs Heckenloch spitz auf mich zu. Auf 70 Schritt blieb er stehen, drehte sich um, aber es schien ihm alles so sicher, daß ich noch nicht schoß – und Reineke fing auch wirklich wieder an, auf mich zuzuschnüren. Auf 15 Schritt blieb er stehen und fing an, mich zu mustern. Ich schloß die Augen so weit, als es ging, um noch sehen zu können, da alles Wild den Jäger am

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