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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Mann und der Tochter eines Kranken natürlich war. Magda hatte sich nie mit Nicolai und bei diesen Gesprächen gelangweilt. Heute schienen sie ihr grenzenlos nebensächlich. Nicolai sah, daß sie immer ihre Gedanken anderswo hatte. Aus ihren strahlenden Augen erriet er, wo! Er lenkte endlich das Gespräch auf Flemming, seine hohe Begabung, seinen eisernen Fleiß, der ein so eigenartiges Gegengewicht zu seiner überschäumenden Lebenslust bilde, zu seiner großen Zukunft. Und da war Magda ganz bei der Sache. Auch ging ihr das „Herr Flemming“ und „der Herr Hofkapellmeister“ ganz geläufig von den Lippen, daß Nicolai zweifelhaft ward, ob schon eine Herzensverbindung zwischen ihnen bestehe, und Furcht zu fassen begann, daß vielleicht nur Magda ihrerseits René liebe. Flemming – so wußte Nicolai – war nicht der Mann, sich jetzt schon zu binden. Bei solcher Sachlage fürchtete er bittere Enttäuschungen für Magda.

Es klingelte.

„So spät noch?“ fragte Magda mehr sich als ihn.

Gleich darauf kam Kathi und legte ein großes Briefcouvert auf den Tisch. Es kam von René. Das Format schien anzudeuten, daß ein Büchlein in dem Umschlag sei. Magda öffnete ihn – nicht zu öffnen wäre auffallender gewesen.

Nicolai mußte nun sehen, was sie selbst mit Erstaunen wahrnahm, daß eine Anzahl buchartig zusammengehefteter Blätter, alle von Renés Hand beschrieben, darin gewesen war, außer dem Begleitbrief, den Magda nun zwischen ihren kalten Fingern hielt.

Sie sah zu Nicolai hinüber.

„Lesen Sie,“ sagte er. „Ich werde Sie niemals stören.“

„Was soll der bittere Ton?“ fragte sie.

„Magda,“ rief er ausbrechend, „in Gefahr und Schmerz sollen Sie nicht kommen! Das allein überlebte ich nicht. Ihr Glück soll mich standhaft finden – Ihr Unglück würde aus mir einen Rasenden machen. Sie sind der Engel meines Lebens gewesen. Und ich sollte nicht über Sie wachen, Ihnen nicht in die Arme fallen dürfen, wenn ich Sie einem Abgrund zueilen sehe! Das ist Tollheit, nicht wahr? Das ist barer Unsinn, nicht wahr? Diesem Mann,“ – er deutete auf Renés Brief – „dürfen Sie nicht in Ihrem Herzen Raum gönnen.“

Magda wurde blaß. Sie stand auf.

„Sie wollen Schlechtes von jemand sagen, der Gutes von Ihnen spricht?! Sie wollen eine Indiskretion begehen? Ich will nichts hören,“ sagte sie, bebend vor Zorn.

Er blieb sitzen und sah sie gramvoll an. „Indiskretion! Solch ein leeres Wort in solch inhaltsvollem Augenblick und zwischen uns! O, Magda! Nein, ich will und ich kann nichts Schlechtes von ihm sagen. Aber das will ich sagen: er ist zu gährend noch und wird vielleicht immer zu gährend bleiben, um einem Weibe ungetrübtes Glück geben zu können.“

„Und wenn ich nun lieber mit ihm leiden, als ohne ihn in Frieden leben will!“ rief Magda außer sich.

„So ist es also schon zu spät!“ sprach er tonlos vor sich hin.

Magda begriff, daß sie sich mit ihren Worten verraten hatte.

„Die Rücksicht auf meinen Vater verhindert mich, jetzt schon Renés Weib zu werden,“ sagte sie leise. „Diese Stunde hat Ihnen mein Geheimnis verraten.“

Nicolai neigte das Haupt.

„Ich hab’ ihn immer gern haben müssen – ich will versuchen, ihn nicht zu hassen,“ flüsterte er.

Als er gegangen war und Magda noch ihr kleines Hauswesen geordnet hatte und dann im Bett lag, las sie endlich den Brief. Sie hatte sich das in quälerischer Vorfreude aufgespart, bis kein profaner Laut mehr ihre Andacht stören könnte.

„Du, der meine Seele eigen ist! Ich muß noch zu Dir sprechen an diesem Abend, der nicht der leeren Geselligkeit im Freundeshaus, sondern der weihevollen Arbeit gehören soll. Wie eine Nachfeier soll mir die Arbeit sein für die verlebten inhaltsreichen Stunden, und wie eine Entführung für die Augenblicke, wo ich Dir wehgethan, und für jenen vor allem, wo Dich meine Leidenschaft erschreckt hat. Oft noch, Geliebteste, wird mein Wort und mein Wesen Dich vielleicht kränken, ohne daß ich es ahne, wie auch Du vielleicht oft mir fern bist mit Deinem Erfassen, gerade wenn Du glaubst, mich ganz zu verstehen. Die Geheimnisse einer Mannesseele sind einer Frau so wenig ergründlich, als einem Mann die Seele einer Frau. Jedem bleibt eine letzte Einsamkeit, in die der andere nicht hinein dringen kannn und darf. Kennen wir uns denn selbst so gut, um immer für uns bürgen zu können? Sind wir vor den Ueberraschungen unseres eigenen Wesens sicher? Können wir etwas versprechen? Wir können nur glauben und hoffen. Und ich glaube, daß mein ganzes Innerstes Dir zugethan ist, mit einer großen Inbrunst. Und ich hoffe, daß es niemals im Leben etwas geben kann und wird, das mir möglich machte, das Ideal der Treue zu verletzen. So sehr fühle ich mein Sein an das Deine gebunden, daß ich bis zu Thränen erschüttert werde, wenn ich denke, Du könntest Dich von mir loslösen.

Heute abend ist es mir auch ein Bedürfnis, Dir Näheres von meinem Werk zu sagen, das der Vollendung nahe ist. Hier beigeschlossen findest Du die Dichtung zu meinem Musikdrama ‚Filippo Lippi‘. Obschon der Gang der Handlung und die Umrisse der Charaktere natürlich seit Jahr und Tag geschlossen vor mir standen, ist doch Wort und Ton der Dichtung selbst mir immer zugleich entstanden. Somit ist es eigentlich eine Improvisation, was man im letzten tiefsten Sinn von jeder Dichtung und jeder Komposition sagen kann. In dem Charakter des Filippo Lippi wirst Du einige Züge von mir selbst wiederfinden. Wie hätte ich auch den heißblütigen, leichtsinnigen, emsig schaffenden Mönch-Maler zum Vorwurf nehmen mögen, wenn ich nicht etwas von mir in ihn hineingeheimnissen konnte. Als mir die Lucrezia Buti entstand, kannte ich Dich noch nicht; aber wie wundersam berührt es mich nun, in dieser treuen, in sich abgeschlossenen Frauennatur Aehnlichkeiten mit Dir zu finden.

Die Liebe ist immer die Erlöserin. Sie trägt über alle Abgründe hinüber. Das ist ihre Mission.René.“ 

Magda las dann bis tief in die Nacht hinein in dem dramatischen Gedicht, das in kraftvollem Aufbau und wundervoller Sprache das Liebesleben und den Tod des italienischen Karmelitermönchs schilderte. Der erste Akt spielte in Florenz und zeigte Lippi eingekerkert von Cosimo Medici, um für diesen ein Gemälde zu vollenden. Vom behaglichen Gefängnis aus spinnt er mit der täglich vorbeigehenden Patriziertochter Lucrezia Buti ein Liebesverhältnis an. Er entflieht und trifft die Geliebte in der Dämmerung inmitten eines festlichen Volkshaufens auf der Piazza della Signoria. Lippis Rivale im Ruhm wie in der Liebe, Pietro di Cosimo, wird Zeuge seines Glücks. Von da an stieg die Handlung zu immer erregteren und größeren Situationen. Man sah in Butis Palast einen Ausschnitt des genußfrohen Kunstlebens jener Tage, sah den Pietro bei einer Bilderkonkurrenz dem Lippi unterliegen, sah das von Pietros Verrat entlarvte Liebespaar in heißem Kampf um Butis Vergebung. Lucrezia sucht sie durch Bitten an das Vaterherz zu erreichen, Lippi durch stolzes Pochen auf seine Künstlerschaft, und das Verbrechen gegen seine Gelübde sucht er von sich zu weisen mit der Anklage, daß man ihm das Mönchsgewand angezogen, da er noch keine Kenntnis der Welt und seiner selbst hatte. Aber der alte Buti sieht den Liebesbund der Tochter mit dem Mönch als eine Ungeheuerlichkeit an. Lucrezia kommt in ein Kloster. Lippi sucht sie verzweifelt. Der Zufall bringt ihm einen Ruf in eben dasselbe Kloster. Er fühlt seine Kräfte schon versagen, denn das von Pietro ihm beigebrachte Gift schleicht in seinen Adern. Aber er malt doch mit höchster Künstlerschaft das Bildnis der heiligen Margarete. Als die Nonnen es sehen, erkennen sie das Antlitz der Lucrezia. So erfährt Lippi ihren Aufenthalt. In der Nacht versucht er die Geliebte zu entführen; sterbend, mit dem stammelnden Gebet: „Gott, laß mich leben!“ bricht er in ihren Armen zusammen.

Magda erriet, daß der Stoff reichen Anlaß zu leidenschaftlicher Musik in den Liebesscenen, zu volkstümlichen Gesängen und Kirchenchören gab. Vor allen Dingen aber ward sie schon durch die Dichtung allein erschüttert, insoweit sie den glühenden Lebensdrang, die überschäumende Freudigkeit im Wesen des Filippo Lippi zum Ausdruck brachte.

Sie fand den Geliebten in dieser Gestalt wieder.

In der Nacht schliefen im Hause zwei Menschen sehr wenig. Die eine nicht – vor Glück, der andere nicht – vor Gram. –

Ungefähr zehn Tage voll reichen Inhalts folgten.

Als Magda am nächsten Tag René wiedersah – es war auf der Brücke vor dem Schloß – errötete er. Sie gingen eine Weile zusammen auf und ab und verabredeten für alle folgenden Tage Spaziergänge im Wald. Magda wollte ihren Dank für die Sendung und den Brief sagen. Als sie schüchtern davon begann – eine innere Stimme schien sie davor zu warnen – sagte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_712.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2023)