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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


an Magdas feines, wortkarges Verständnis. Er dachte überhaupt gar nicht an Magda.

Man war sehr vergnügt, aber für einen Nachmittagsthee schien denn doch, als es Neun schlug, das Ende gekommen. Das Aufbrechen Hortensens und der vier oder fünf älteren Damen, die außer ihr noch anwesend waren, gebot den jungen Mädchen schleunigen Abschied.

Lilly hatte keinen Dienstboten nachgeschickt bekommen, sie besaß ja in ihrem Bruder die natürliche Begleitung. Sibylle Lenzow ihrerseits war im Wagen von Lilly abgeholt worden und hatte ohne weiteres angenommen, daß sie ebenso wieder heimbefördert werden würde. Die Geschwister Wallwitz hatten aber keinen Wagen bestellt, weil Lilly nach Hause gehen wollte – ein Vorsatz, der von der Hoffnung eingegeben war, auf diese Weise vielleicht das Zusammensein mit Flemming zu verlängern.

Während des Theeabends hatte Sibylle einige Andeutungen über die zu Weihnacht bevorstehende Ankunft einer kinderlosen, reichen Tante gemacht, von deren Dasein in der Lenzowschen Familie Wallwitz bisher keine Ahnung gehabt. Dies war eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit für ihn und Sibylle. Wenn das eine Tante war, der man die Hergabe des zur Heirat nötigen Vermögens zutrauen konnte, so durfte am Ende doch noch zur Aussprache kommen, was bis jetzt noch immer unausgesprochen zwischen ihm und Sibylle schwebte. Er war daher von dem Wunsch bewegt, Sibylle nach Haus bringen zu dürfen, um mit ihr unterwegs über die Tante zu sprechen.

Als die Vier, die sich wie natürlich zusammengefunden hatten, vor dem Kasernenthor standen, gingen zunächst die zwei jungen Damen voran. Diese Einteilung behielten sie bei, so lange Bekannte dicht vor oder hinter ihnen waren.

Die Kaserne lag an den Abhängen eines der die Stadt umgebenden Hügel und man hatte noch fast zwanzig Minuten zu gehen, bis man in die Ringstraße kam.

Als man sich derselben näherte, wandte Lilly sich mit einer Frage an den hinter ihr gehenden René. Er antwortete und kam einen Schritt vor und so verschob sich die Gruppierung und sie gingen paarweise.

An der Ecke des von der Kaserne her in die Ringstraße hineinführenden Weges sagte Lilly: „Höre, Wallfried, ich fände es bei dem Nebelwetter unsinnig, wenn wir erst alle Sibylle heimbringen wollten. Nicht, Schätzchen, Du nimmst es nicht übel, wenn Wallfried Dich allein in Deine Johannesstraße bringt? Herr Flemming begleitet mich heim – ich hoffe wenigstens.“

Eine Sekunde zögerte Wallwitz. Es wäre so viel natürlicher gewesen, mit der Schwester zu gehen und Flemming Sibylles Begleitung zu überlassen. Aber er sagte sich dann: ich vertraue die Schwester dem Freunde.

„Sie bieten mir nicht den Arm an?“ fragte Lilly, als sie allein gingen.

„Es ist in Leopoldsburg nicht Sitte, morgen würde die ganze Stadt davon sprechen,“ antwortete er.

„Ja!“ sagte sie und ließ ihren Schleier herunter. „Wer kennt mich denn schon hier so genau?“

Er gab ihr den Arm und drückte ihn leise. Die Luft war von abendlichem Oktobernebel gesättigt, der wie eine weiße Wand die Ferne vermauerte und die nächsten hundert Schritt weit wie eine Krepphülle um die Gaslaternen lag. Die Quadersteine auf dem Bürgerstieg waren blank vom nassen Niederschlag. Ab und zu rollte auf dem Fahrdamm eine Droschke vorüber; in den Häuserwänden standen die hell erleuchteten Fenster wie gelbe Dominosteine auf dunklem Grund.

Die beiden späten Spaziergänger – denn sie hatte schweigend einen unnötig weiten Weg gewählt, sprachen nur wenig zusammen und die ganze Welt hätte jedes Wort hören können.

Aber dennoch lag es auf ihnen wie Reiz und Spannung von etwas Verbotenem. Ihre Stimmen waren unklar und ihre Gespräche nichtig. Die Antwort des einen auf die Bemerkung des andern hatte meist weder Sinn noch Zusammenhang. Sie wurden sich dessen nicht bewußt.

Ihr Weg führte sie am Opernhaus vorbei. „Hier wohnen Sie?“ fragte Lilly.

René zeigte bald danach das Haus. Seine Fenster waren erleuchtet. Er hatte gesagt, er würde nach acht Uhr heimkommen.

Sie standen einen Augenblick still und sahen die hellen Fenster an. – Und dann gingen sie sehr schnell bis zum Hause von Lillys Großmutter, wo René sich im Vestibül sehr förmlich verabschiedete und Lilly seinen Blick vermied.

Zu Hause blieb René lange so zerstreut, daß er nicht wußte, was er zunächst beginnen wollte.

Endlich setzte er sich an den Schreibtisch. Ihm war eingefallen, daß Magda seit vielen Tagen keine Nachricht von ihm hatte. Er schrieb:

„Liebe Magda! Bis zu dem Tag, wo die unglückliche ‚Zenobia‘ heraus ist, darfst Du gar nicht auf mich rechnen. Die unfreudige Arbeit drückt so auf meine Laune, daß wir doch keine liebe, schöne Stimmung zusammen haben würden. Versäume nicht, an jenem Abend ins Theater zu kommen, damit Du ermißt, wie viel Langeweile und Mühe ich hatte. Dein René.“ 

Nach diesem Brief, den er sofort zur Post tragen ließ, war ihm so leicht und frei ums Herz, als ruhe er von großer Pflichterfüllung aus.

Am andern Morgen zeigte er einen hinreißenden Eifer bei der Probe. Er befeuerte die Künstler, die verzagen wollten.

„In die unklare Aufgabe Klarheit zu bringen, sei unser Ehrgeiz! Seht, Kinder, bei solchen Sachen kann man beweisen, daß wir nicht nur reproduzierende Künstler sind,“ sagte er.

Und wenn seine Hand mit dem Dirigentenstab sich erhob, so war sie wie ein ehernes Merkmal der Sicherheit für alle.

Hoheit kamen und waren so entzückt, daß sie zum Regisseur äußerten: „Unser Flemming ist doch ein einziger Mensch.“ Und in seiner frohen Laune, die schon die Bewunderung des fürstlichen Vetters im Geist vorweg genoß, versprach der Herzog René die Mittel zu einer Musteraufführung von Wagners Nibelungenring, welche, wie er wußte, Renés heißer Wunsch für diesen Winter war.

In allen Pulsen fühlte René Thatkraft, Freude, weiteren Schaffensdurst klopfen. Das Gelingen erfüllte ihn immer wie mit einem prickelnden Rausch. Ihm war es, als würfe sich ihm der Reichtum des Lebens so üppig entgegen, daß er nur mühelos zuzugreifen brauche.

In der Mittagspause fand er ein Briefchen auf seinem Schreibtisch.

„Jemand, der den brennenden Wunsch hat, die Stätte einmal nur sehen zu dürfen, wo der Meister schafft und lebt, wird heute abend um sechs Uhr kommen, einen kurzen Blick in das Heiligtum werfen und wieder still von dannen gehen.“

Es war dieselbe Handschrift wie auf der Karte, die den Gardenienstrauß begleitet hatte. René hatte solches Herzklopfen, daß seine Finger, die das Briefchen hielten, zitterten.

Er dachte Verworrenes: nein, das ist ja undenkbar – welcher Wahnsinn – eine Kühnheit, die unaussprechlich gefährlich ist – ein dummer Backfischstreich ohne Ueberlegung – überspannter Hang zur Romantik – so weit, nein, so weit kann sie nicht gehen – –

Diese Gedanken wirbelten wie lauter zerhackte Sätze durch seinen Kopf.

Er faßte kurz den Entschluß, nicht zu Hause zu sein. Dann den andern: jetzt gleich bei der alten Gräfin einen Besuch zu machen und dabei Lilly zu verstehen zu geben, daß sie im Begriff gewesen sei, durch eine wahrscheinlich ganz unschuldige, romantische Idee sich in große Gefahr zu begeben.

Dann sagte er sich, er wisse ja gar nicht, ob die Briefschreiberin Lilly Wallwitz sei; zu dem Gardenienstrauß hatte sie sich mit klaren Worten ja nicht bekannt.

Es war so bequem, vor sich selbst zu thun, als wisse er’s nicht.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er in seiner öffentliche Stellung sehr oft schon Damenbesuch empfangen hatte. Noch neulich war die junge Pastorin Windermann bei ihm gewesen und hatte gefragt, ob er wohl ihren kleinen Knaben unterrichten könne, der das reine musikalische Wunderkind sei. Und erst vorige Woche hatte er Frau von Palzow mit ihrer Tochter empfangen, um die Stimme der schönen, jungen, armen Dame auf ihre Bühnenfähigkeit zu prüfen.

Im Grunde war es etwas so Einfaches, daß nur die unnötig thörichte Form der Anmeldung als auffallend blieb.

Nachdem René seine Gedanken auf diese Weise in Ordnung gebracht und sich bewiesen hatte, daß er nichts Voreiliges thun dürfe, sondern einfach abzuwarten habe, wer sich als diese überspannte Verehrerin entpuppe, ordnete er seine Arbeiten so, daß er von sechs Uhr an ein Stündchen frei hatte.

Schließlich: er war nicht der Hüter junger Damen, die ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_730.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2023)