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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

man gleich anfangs, daß den Blinden außer dem Unterricht in den eigentlichen Schulgegenständen noch Anleitung gegeben werden müsse zur Erlernung irgend einer nützlichen Beschäftigung fürs spätere Leben. Der Zweck dieser technischen Ausbildung wurde aber hauptsächlich darin erblickt, durch Beschäftigung die Blinden der Nacht tödlicher Langweile zu entreißen.

Lese- und Schreibunterricht.

Erst in zweiter Reihe stand der Gedanke, sie durch Erlernung einer beruflichen Thätigkeit erwerbsfähig zu machen. Nachdem indes durch unzählige Beispiele der Beweis geliefert worden ist, daß auch der Blinde dahin kommen kann, sein eigenes Brot zu essen, darf die Blindenanstalt ihre Aufgabe erst dann als erfüllt ansehen, wenn sie ihrem Zögling zur vollen Erwerbsfähigkeit verholfen hat. Hilfe zur Selbsthilfe! ist hier das Losungswort. Um dieses hohe Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, daß der eigentlichen professionellen Ausbildung eine gründliche körperliche, moralische und intellektuelle Erziehung vorausgehe, denn es ist auch hier wie überall

Schreibe-Lineal.

im Leben der intelligente und sittlich gefestigte Blinde der leistungsfähigere. Dieser Teil der Aufgabe fällt der Blindenschule zu. Derselben wird das blinde Kind in der Regel im 8. bis 10. Jahre zugeführt, und es verbleibt in ihr bis zur Konfirmation. Ihr Ziel ist das einer guten Bürgerschule. Auch die Gegenstände sind die der Volksschule, also Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen, Formenlehre, Naturkunde, Geographie, Geschichte, Deutsch (Grammatik und

Blindenschrift.

Litteratur), Zeichnen und Turnen; besonders betont wird dann noch aus dem Gebiet der Musik der Gesang, und zwar für alle, und die Pflege einzelner Instrumente von seiten der musikalisch Begabten.

Was zunächst die physische Seite der Erziehung betrifft, so bedarf diese bei Blinden einer besondern Sorgfalt. Das blinde Kind neigt infolge seines Gebrechens zu einer Ruhe und Unthätigkeit, die dem vollsinnigen im höchsten Grade unnatürlich ist. Gesunden Kindern ist Beweglichkeit eigentümlich, ihre Spiele sind nicht selten mit einem Kraftaufwande verbunden, der in keinem Verhältnis zu den schwachen Gliedern zu stehen scheint. Bei Blinden ist das gerade Gegenteil der Fall; sie bewegen sich wenig und furchtsam, um sich nicht zu verletzen. Dieser Scheu vor Bewegung tritt das Elternhaus in vielen Fällen nicht mit dem nötigen Nachdruck entgegen, und oft wird der Anstalt das blinde Kind in einem Grade der Verwahrlosung übergeben, welcher geradezu erschreckend ist. Die Blindenschule sucht diese Schäden einer unzweckmäßigen Pflege auszugleicheu, indem sie ihren Zöglingen möglichst viel Bewegnng, namentlich im Anstaltsgarten, bietet, sie zu freien Spielen und gymnastischen Uebungen anhält; nicht selten aber ist alle Mühe vergebens. Die erschlafften Glieder bleiben kraftlos und ungelenkig für immer und auch der Geist ist aus dem dumpfen Vorsichhinbrüten nicht aufzurütteln. Solchen Thatsachen gegenüber muß der häufig laut gewordene Wunsch, das blinde Kind so früh wie möglich in die Anstalt aufzunehmen, als gerechtfertigt erscheinen. Auf ihm beruht auch das Streben der Blindenfreunde, überall, wo solches noch nicht geschehen, zu den eigentlichen Blindenanstalten sogenannte Vorschulen zu errichten. In dieser sollen blinde Kinder vom 6. Jahre an Aufnahme finden, auch, wenn es wünschenswert erscheint, schon früher. Frühzeitig sucht auch die Blindenschule ihre Zöglinge im Gebrauch der Hand zu üben und erreicht dieses Ziel durch die sogenannten Fröbelbeschäftigungen, durch das Modellieren in Thon oder besonders präpariertem Wachs und durch das Holzschnitzen.

Wenn nach dem Vorhergehenden schon die körperliche Erziehung des Blinden ein gut Stück Erzicherarbeit erfordert, so sind die Schwierigkeiten seiner geistigen Ausbildung nicht geringer, da hier die Unterrichtsmethode eine eigentümliche ist und besondere oft recht komplizierte Lehrmittel zur Verwendung kommen. In manchen Fächern ist es zwar ganz gleich, ob der Lehrer sehende oder blinde Kinder vor sich hat, z. B. in Religion, Deutsch, Geschichte, Kopfrechnen etc.; in anderen dagegen, wie im Lesen, Schreiben, Geographie, Geometrie, sind besondere Hilfsmittel zur Veranschaulichung und besondere Apparate nötig. Erstere zielen darauf ab, überall, wo es erforderlich, eine Ersetzung der Farbe durch das Relief vorzunehmen und dadurch dem Blinden die Aneignung der sinnlichen Vorstellungselemente zu ermöglichen. Statt des gebräuchlichen schwarzen Drucks und schwarzer Schrift muß der Blinde erhabene Schrift gebrauchen, die er mit den Fingerspitzen liest. Die Bücher für Blinde sind entweder mit den großen lateinischen Buchstaben (A B C D) oder in dem sogenannten Brailleschen Punktschriftsystem gedruckt.

Klavierunterricht.

Es ist einleuchtend, daß diese Bücher sehr dickleibig werden müssen. So umfaßt eine von der Bibelgesellschaft in Stuttgart besorgte Ausgabe der Bibel mit Druck in lateinischen Schriftzeichen 64 große Bände. Zu seiner Korrespondenz hat der Blinde ebenfalls zwei Systeme. Will er an einen Blinden schreiben, so gebraucht er die schon mehrfach erwähnte tastbare Punktschrift; handelt es sich dagegen um einen Brief an seine sehenden Verwandten, so benutzt er die großen lateinischen Buchstaben, die er mit Hilfe eines unter

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verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_733.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2019)