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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

und Frankreichs in Aufnahme gekommene Klavierstimmen darf nicht unerwähnt bleiben. Leider ist das Mißtrauen, dem der Blinde mit seiner Arbeit fast überall beim Publikum begegnet, auch auf diesem Gebiete schwer zu überwinden. Und doch ist hier seine Leistungsfähigkeit, falls er über ein gutes Gehör verfügt und von einem tüchtigen Stimmlehrer ausgebildet ist, über allen Zweifel erhaben. So ist der erste Stimmer der Weltfirma Steinway in New York ein Blinder; die Hamburger Filiale beschäftigt ebenfalls Blinde, ebenso Blüthner in Leipzig und viele andere der berühmtesten Fabriken. Endlich ist noch eine Beschäftigung zu nennen, die von dem Bilde S. 734 veranschaulicht wird, nämlich die Herstellung von Punktdruckbüchern. Man benutzt dazu dünne Zinkplatten, reichlich doppelt so lang als die Seite des zu druckenden Buches, falzt sie in der Mitte zusammen und versieht diese Doppelplatte dann mit Punktschriftzeichen, ähnlich wie beim Beschreiben des Papiers auf der Tafel. Da zum Eindrücken der Punkte in das Zinkblech größere Kraftanstrengung nötig ist, so bedient man sich bei dieser Arbeit einer von Direktor Kull in Berlin erfundenen sinnreichen Maschine. Man sieht auf dem Bilde deutlich, wie sie gehandhabt wird. Auf dem Tisch derselben liegt der Apparat, in welchen die Zinkplatte eingespannt worden ist. Auch das Lineal mit den Ausschnitten ist sichtbar und der Stift, der die Punkte eindrücken soll. Ueber dem senkrecht gehaltenen Stift befindet sich ein beweglicher Querbalken, der in Verbindung steht mit dem Schemel, auf welchen das blinde Mädchen die Füße gestellt hat. Tritt es den Schemel jetzt herunter, so geht auch der Querbalken nach unten, drückt auf den Stift und dieser ruft in der Zinkplatte einen erhabenen Punkt hervor, nur daß er nicht nach oben, sondern nach unten gerichtet ist. Noch ein zweiter, ein dritter Punkt, und der Buchstabe ist fertig. Während die rechte Hand den Stift hält, liest die linke das Manuskript. Ist die ganze Platte bunziert, so wird sie auseinander gebogen, zwischen dieselbe ein vorher angefeuchtetes Blatt Papier gelegt und, mit einer Guttaperchaplatte bedeckt, unter die Presse geschoben. Das zweite junge Mädchen ist eben im Begriff, den Hebel der Presse in Bewegung zu setzen.

Bürstenfabrikation.

In größeren Anstalten sind für die hier aufgezählten Professionen besondere Werkmeister fest angestellt; kleinere müssen sich mit einem Stundengeber und blinden Hilfslehrern behelfen. In einer 4- bis 6jährigen Lehrzeit vom 14. bis 18. resp. 20. Jahre lernt der blinde Zögling fast alle in dem betreffenden Fache vorkommenden Arbeiten, ausgenommen die allerfeinsten, gut und rasch anfertigen, so daß er bezüglich seiner Leistungsfähigkeit in seinem Fache dem sehenden Genossen durchaus nicht nachsteht. Minder begabte Blinde erreichen dies hohe Ziel freilich nicht, aber auch diese werden befähigt, durch ihr Handwerk einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes sich selbst zu verdienen. Ueber die Höhe des Verdienstes, den die ausgebildeten entlassenen Handwerker zu erzielen wissen, liegen bestimmte Angaben vor. Dieselben schwanken bei den Korbmachern zwischen 2 und 18 Mark pro Woche, bei den Bürstenmachern zwischen 3 und 18 Mark und bei den Seilern zwischen 6 und 18 Mark. 6 bis 12 Mark darf man als denjenigen Betrag bezeichnen, den ein Blinder mit gewöhnlicher Begabung, wenn er fleißig ist und Arbeit findet, bei seiner Geschäftsthätigkeit wöchentlich verdienen kann. Das sind freilich bescheidene Einkünfte, aber es ist damit thatsächlich der Beweis erbracht, daß die Mehrzahl der bildungsfähigen Blinden erwerbsfähig gemacht werden kann.

Trotz seiner Erwerbsfähigkeit hält es nun für den Blinden oft schwer, dieselbe in wirklichen Erwerb umzusetzen. In unserer geschäftlich und wirtschaftlich so hoch entwickelten Zeit hat eben jeder, der vorwärts will, alle seine Sinne nötig, und da ist der viersinnige Blinde dem Vollsinnigen gegenüber im Nachteil. Soll darum das auf seine Ausbildung verwandte Kapital nicht gänzlich unproduktiv bleiben, so darf die Anstalt ihre sorgende Hand nicht von ihm ziehen. Die Pflicht der Fürsorge für die Entlassenen wird daher auch von vielen Anstalten als ein wesentlicher Teil ihrer Aufgabe angesehen. Die dabei eingeschlagenen Wege gehen indes weit auseinander. Die einfachste Form der Versorgung ist die in den sogenannten Blinden-Asylen, die man früher als den Schlußstein des schützenden Gewölbes betrachtete, unter dem der arme Blinde eine sichere Zuflucht finden könne. Diese Art der Fürsorge hat aber ihre großen Nachteile. Abgesehen davon, daß sie recht kostspielig ist und immer nur auf wenige sich erstrecken konnte, macht sie den Blinden nicht wahrhaft glücklich. Auch er will nicht lediglich empfangen ohne Gegenleistung. Ueberdies ist dem erwachsenen Blinden die in einer Anstalt notwendige Beschränkung der persönlichen Freiheit unerträglich. Er hat es daher meistens vorgezogen, sich durch seiner Hände Arbeit ehrlich, wenn auch kümmerlich, durchzuschlagen, als sich im Asyl versorgen zu lassen. Als den blinden Asylisten in Dresden freigestellt wurde, ob sie im Asyl verbleiben oder mit Zusicherung einer geringen Leibrente in ihre Heimat gehen wollten, da zogen über zwei Drittel das letztere vor. Seitdem sind hier wie auch in manchen andern Städten die Asyle eingegangen. Diejenige Form der Unterstützung, welche die Freiheit und Selbständigkeit des Blinden unangetastet läßt, wird also die bessere sein. Hierzu gehört die schon berührte Unterhaltung gemeinschaftlicher Werkstätten für blinde Handwerker sowie die Errichtung von Blindenheimen für Mädchen. Diese Veranstaltungen, besonders die Mädchenheime, wirken mit großem Segen und finden überall Nachahmung. Um den Absatz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_735.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2023)