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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


„Ich weiß es nicht. Ich glaube – ich mußte aber doch erst Dich gesprochen haben. O Gott!“

Er verbarg erschauernd sein Gesicht an ihrer Schulter. Er fühlte in diesem Augenblick erst ganz klar, wie grenzenlos dies Herz ihn liebte. Und ein wonnevoller Schmerz zitterte durch seine Seele.

„Wer ist es?“ fragte sie weiter, so eintönig wie ein Sterbender, der keine Kräfte mehr hat.

„Du wirst es später erfahren. Quäle Dich nicht so sehr,“ bat er. Seine Augen waren naß. Er hielt die kleinen kalten Hände, als wollte er sie zwischen den seinen wärmen.

„Ich weiß, wer es ist,“ sagte sie und durch ihre Glieder flog ein fieberisches Zittern. Sie nickte vor sich hin – sie sah den lachenden Mund mit der Zahnlücke vor sich – unerträglich, unerträglich – – –

Er erschrak vor diesem Wort, aber er that keine Frage. Eine lange Pause entstand.

Magda dachte so viel. Und er kniete noch immer neben ihr und sah mit unaussprechlicher Sorge in ihr Gesicht. Sie fühlte seinen Blick gar nicht. Sie dachte, wie wunderlich es doch sei, daß seine Ehre ihm gebiete, jene zu heiraten, die sich in sein Leben gedrängt hatte, mit eigenwilliger Begehrlichkeit. Und wie wunderlich es sei, daß seine Ehre ihm nicht gebot, ihr selbst sein Wort zu halten. Wenn da ein Konflikt war, warum löste der sich zu ihrem Unglück und nicht zum Unglück der andern? Wenn eine weinen sollte, warum sie, die in starker, reiner, selbstloser Liebe gestrebt haben würde, der gute Engel seines Lebens zu sein – warum nicht die andere, mit der er schon jetzt, schon in dieser Stunde ein Erwachen voll Elend fürchtete? – –

War denn das möglich, daß in einem Menschenherzen auf einmal alle Liebe und alle Erinnerungen an die Eigenschaften, welche diese Liebe erweckt haben, auslöschen können – –

„Magda,“ sagte er mit sanfter Stimme. Er wollte sie aus den qualvollen Gedanken erwecken, die er über ihre Stirn ziehen sah, denn da gruben sich tiefe Schmerzensfalten ein.

Sie schreckte auf und sah ihn an. Ihr Blick versenkte sich tief, tief in seine Augen.

„Nun werde ich Dich nie mehr sehen,“ sagte sie endlich leise.

Er erschrak sehr. Er war gar nicht darauf gefaßt, ein solches Wort zu hören. Vor seiner Phantasie hatte, als er sich diese Unterredung ausgemalt, eine Scene voll heftiger Klagen, Vorwürfe, Thränen gestanden. Ihr Herz, das Herz einer Frau konnte nicht fassen, was geschehen war, so sagte er sich, und sie würde ihn mit Fragen martern und mit Bitten um weitausholende Erklärungen. Und, so dachte er, ihre weibliche Neugier würde feindlich wach werden, sie würde ganz genau wissen wollen, wann, wo, wie er von der neuen Liebesgewalt erfaßt worden sei. Die Vorstellung, daß er eingehend über das Geschehene sprechen müsse, hatte ihn immer aufwallend feindselig gestimmt. Er fürchtete, ungerecht und heftig zu werden, wenn sie ihn so quälen werde.

Denn er war einer von denen, die wohl eine sinnlose That begehen, aber ihr nachher nicht ins Gesicht sehen können.

So hatte er es für zweifellos gehalten, daß sie heute in heftigem Zorn voneinander scheiden würden. Aber wie etwas ganz Selbstverständliches hatte auch die Gewißheit späterer Versöhnung vor seinem Geist gestanden.

Ebensowenig wie er einst bei Zwistigkeiten mit seiner Mutter, oder bei einem Gram, den er ihr bereitete, daran dachte, daß ihn dies von dem Herzen scheiden könne, das ihm das nächste auf der Welt war, ebensowenig hatte er gedacht, daß irgend etwas je sein Dasein ganz von dem Magdas loslösen könne. Nur die Form ihrer künftigen Zusammengehörigkeit würde sich verändern, nicht das Wesen derselben.

„Du willst mich aus Deinem Leben stoßen?“ fragte er eindringlich.

Ihre willenlose Ergebenheit in das Geschick hatte ihn maßlos erschüttert. Daß sie nicht einmal den Versuch machte, ihn jener anderen abzuringen, konnte er gar nicht fassen. Die höchste Liebe schien hier beinahe der höchsten Gleichgültigkeit verwandt, denn anders als in kampfloser Preisgabe des Glücks konnte Gleichgültigkeit sich auch nicht äußern.

„Ich?“ fragte sie mit einem herzzerreißenden Lächeln entgegen.

„Mein Gefühl für Dich ist dasselbe geblieben,“ versicherte er zärtlich, „ich sehe in Dir die treueste Schwester. Und diese liebe, engelsgute Schwester bitte ich: bleibe mir, was Du mir warst.“

„Schwester!“ wiederholte sie bitter.

Ihr müdes Auge ging in dem Raum um. Dort, wo der umgestürzte Tisch auf der Ottomane lag, blieb der Blick nachdenklich haften und wanderte dann langsam über den feuchten Estrich, über die umherstehenden Stühle und die an der Mauer lehnende zusammengeklappte spanische Wand.

Die breiten platten Gasflammen fuhren sacht zischend aus ihren Brennern. In den blanken schwarzen Fenstern spiegelte sich der Raum wieder. René sah dort deutlich noch einmal die Frauengestalt, die da vor ihm zusammengekauert im Stuhle saß.

Er wußte, welche Erinnerungen das Auge hier suchte – ihn selber überfluteten sie wie brennende Scham. Damals, als ihn seine Liebe für Magda beinahe hatte die Besinnung verlieren lassen, damals sah die zarte, stille Abenddämmerung in das Gemach. Jede Minute jener Stunde stand wieder deutlich vor ihm.

Und ihr bitteres „Schwester“ ließ ihm das Rot in die Wangen steigen.

Er erhob sich. Unwillkürlich stand sie auch auf.

Sie legte die Finger der Rechten gegen die Schläfe.

„Darf ich um etwas bitten?“ fragte sie.

Er nickte wortlos.

„Laß es schnell sein – schnell!“

Er verstand, was sie meinte, aber antworten, auf diese herzzerreißende Mahnung antworten – nein, das konnte er nicht.

Allerlei unklare Empfindungen überschwenglicher Art zogen durch seine Seele: daß Magda sich bald zum Frieden durchringen und ihm treue Freundschaft schenken möge, daß er Lilly lehren wolle, sie wie eine Heilige zu verehren, daß er, soweit es ihm noch möglich sei, ihr Sonnenschein in das Leben tragen wolle und ihr vor allem dadurch wohlthun müsse, daß er ihr immer zeige, er achte sie höher als alle Frauen dieser Welt. –

Er hätte in diesem Augenblick die Sterne vom Himmel herunter holen mögen, um ihr wohlzuthun, und wußte doch, daß sein Bleiben oder Gehen, sein Reden oder Schweigen ihr gleicherweise wehthun müsse.

„Lebe wohl!“ sagte sie.

„Darf ich morgen herkommen und sehen, wie es Dir geht, und Dir sagen, wie die Angelegenheit sich gestaltet?“ bat er. Es kam ihm so natürlich vor, mit ihr nun alles beratend zu besprechen, sie genau wissen zu lassen, wie sein Schicksal ward, ihr immer mehr von sich zu sagen, als alle fremden Leute erfahren würden.

Sie schüttelte den Kopf.

René nahm ihre Hand und hielt sie lange in der seinen.

Er fühlte, er dürfe Magda nun nicht mehr quälen, ihr kein Versprechen abzuringen suchen und nicht von ihr verlangen, daß sie ihm erlaube, sie wiederzusehen. Aber er fühlte auch, daß er, von innerstem Seelenzwang getrieben, ohne ihre Erlaubnis wiederkommen werde, müsse.

Sie wußten sich nichts mehr zu sagen. Und doch stand er immer noch wie angewurzelt vor ihr und konnte die Hand nicht lassen.

„Geh’!“ bat sie leise.

Er küßte ihr die Stirne – wie damals, als das Abendrot durch das Fenster glomm und er von ihr schied, heiligste Liebe für sie im Herzen.

Magda sah ihn auf die Thür zugehen und sah, wie er sie öffnete. Er stand noch eine Sekunde zögernd.

Einen Herzschlag lang war es Magda, als fasse sie ein Schwindel, als sei alles nur ein Traum gewesen, als müsse er sich wenden und sie ihm dann mit einem Jubelschrei in die Arme fallen.

Die Thür schlug zu. Er war fort.

Magda stand eine Weile unbeweglich. Ueber ihrem Haupt zischten die Gasflammen. Plötzlich kam es ihr vor, als schmerzte sie das. Sie legte die Hand flach oben auf ihr Haar.

Langsam ging sie vorwärts, der Thür zu, ihm nach.

Dann hob ein zitternder Seufzer ihre Brust. Sie kehrte um und ging durch den Raum in ihr Schlafzimmer, schritt weiter, entgeistert, mechanisch, durch die Küche, an Kathi vorbei, durch die Stuben und sah Hortense nicht. Sie hatte ganz vergessen, daß die da war. Und ging zu dem alten Manne, der in einer dämmerigen Zimmerecke teilnamlos dasaß.

Sie kniete neben ihm nieder und nahm seine Hand. Sie beugte ihr Haupt herab und legte ihr Angesicht auf diese Hand.

Und wenn der Mann mit den unklar verschwimmenden Gedanken auch nicht mehr wußte, was Herzensnot ist, und wenn von seinen Lippen auch kein Wort des Trostes mehr kommen konnte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_759.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2023)