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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Erdstöße (mitunter sogar fünfmal am Tage) empfunden wurden, wuchsen doch die kleinen Lehmhäuschen der Uebriggebliebenen rasch aus den Trümmern empor und die zweite Katastrophe fand neue Opfer, im ganzen abermals 3000 Personen ein Massengrab bereitend.

Mein Kutschaner Gewährsmann hatte eine Tekinen-Kibitke (Zelt aus schwarzem Filz), in der auch ich dann bei ihm lebte, erworben, als wiederum an einem rauhen Wintertage jenes nunmehr zwei volle Minuten währende Rollen im Erdinnern ertönte, dann ein heftiges Schwanken ihn zu Boden warf und unter den Trümmern aller im Zelte befindlichen Gegenstände begrub. Er behauptete, daß es ihm ganz unbegreiflich scheine, wie die Erdoberfläche nicht auseinandergeborsten sei und alles verschlungen habe, so furchtbar heftig seien die Stöße gewesen. An mehreren Stellen hatte die Erde zollbreite Risse davongetragen, die unter einer Erdschicht zum Winter gebetteten Weinreben wurden vielfach, als hätte man an ihnen herumgezerrt, von ihrer schützenden Hülle befreit. Hierbei geriet die Stadt in einen Zustand, wie ich ihn bei meinem am 20. Mai erfolgten Einmarsch antraf, d. h. nicht das kleinste Wohnhaus war stehen geblieben. In der vorerwähnten Badestube wurden mehrere hundert Frauen begraben, da der Donnerstag ja derjenige Tag ist, wo alle Mohammedaner sich zum kommenden Freitag einer sorgfältigen Säuberung hinzugeben pflegen. Hinter den Staubwolken war während einer halben Stunde die Sonne nicht sichtbar und selbst die uralte Moschee, die schon mehr als einen jener Schreckenstage überdauert hatte, war eingestürzt, alles unter ihren Trümmern begrabend. Vom Eindruck, den dieser Tag auf die Einwohnerschaft hervorgebracht haben mag, konnte ich mich selbst überzeugen, da mir aller Orten Personen begegneten, die aus ihren Zügen deutliche Spuren einer hart an Wahnsinn grenzenden Geisteszerrüttung erkennen ließen.

Rührend ist es, wie sehr der Mensch doch an der heimatlichen Scholle klebt. Als ich am 21. Mai früh, noch bevor ich der Einladung des Gouverneurs Folge leistete, durch die Stadt, oder besser gesagt über die Trümmer derselben hinweg, einen Spaziergang unternahm, konnte ich meines Erstaunens nicht Herr werden, als ich die aller Orten vereinzelt dastehenden Zelte und kleinen Lehmhöhlen genau auf derselben Stelle (wie mein Begleiter mich unterrichtete) stehen sah, wo in 14 Monaten zweimal das ganze Glück der Leute vernichtet worden war. Nicht das Bestreben, möglichst dicht bei einander zu wohnen, gab hierzu Anlaß, sondern die Macht der Gewohnheit hatte über die Furcht vor einer neuen Heimsuchung gesiegt.

Wir begannen unsere Wanderung von der Nordseite der Stadt und befanden uns alsbald auf einem freien Platz, der einst zur linken Hand von einer großen Karawanserei, dem Telegraphen-, Zoll- und Posthause eingerahmt war. Genau auf derselben Stelle, wo früher die Dscharwadaren (Kameel- und Eseltreiber) ihre Nachtherberge gefunden hatten, kampierten sie jetzt auf den Trümmern jenes Gebäudes und auch die Zelte der drei vorerwähnten Verkehrsämter waren an ihrem früheren Orte errichtet. Ihnen gegenüber lag die angeblich 25–30 Fuß dicke Stadtmauer zertrümmert danieder.

Als wir über sie hinweggeklettert waren, fielen mir zunächst die Nachbleibsel der altehrwürdigen Moschee in die Augen, über denen eine blaue mit einem Dreizack versehene Fahne wehte. Das Grab des Heiligen war vom Schutt befreit und mit einem Holzgerüst und Vorhängen, statt der früher die ganze Moschee umgebenden eisernen Kette, versehen, wodurch der Zutritt Ungläubiger von ihm abgewehrt werden sollte.

Auch der Bazar, aus kleinen Bretterhütten bestehend, war genau auf derselben Stelle errichtet wie früher, und auf den Gräbern ihrer Angehörigen saßen jetzt die Leute, bestrebt, die wahrhaft traurigen Reste früherer Warenvorräte in Brot umzusetzen.

Wenn ich bei diesem Gange das Gefühl hatte, daß ich nie im Leben die dabei empfangenen Eindrücke vergessen werde, so werde ich mich kaum geirrt haben, denn schon das Heer jener Bettler, die uns den Durchgang verwehrten, bot Typen, wie ich sie nicht mehr anzutreffen hoffe. Gott gebe es!

Die Erdstöße, wenngleich sehr schwach, dauerten noch fort, und als ich in Kutschan anlangte, waren auch die Spuren des blutig verlaufenen Volksaufstandes allenthalben noch wahrzunehmen.

Auf jenen Bubenstreich, demzufolge das Volk mit obenbenannter Steuer belegt wurde, folgte ein ganzes Heer von Intriguen, wie sie wohl nur Persien zu zeitigen vermag. Es ist wahr, daß die Provinz verhältnismäßig eine bemerkenswerte Fülle an Getreide, Baumwolle, Früchten, namentlich Rosinen, hervorbringt, der Zeitpunkt jedoch für eine Erhöhung der Abgaben wurde so falsch gewählt wie nur möglich, da doch die Gouvernementsstadt oder mit ihr der Kern der Bevölkerung für Jahrzehnte hinaus vernichtet oder ruiniert war. Ungeachtet dessen begannen allerhand Persönlichkeiten den im Volke sehr beliebten Haakim des Chanats Kutschan, der den Namen Mammed-Nassir-Chan-Sudsha-ud-Dolé führte, zu überbieten. Letzterer zahlte dem Schah einen jährlichen Tribut von 350000 Kran (1 Kran = 30 bis 35 Pfennig), wogegen dessen Gehilfe Ramasan-Chan-Sartip-Chan sich anheischig machte, bei Abtretung des Gouverneurpostens an ihn 700000 Kran zu zahlen. Die Provinz wurde ihm unverzüglich zugesprochen und sein Vorgänger entlassen!

Um nur einige der Machtvollkommenheiten eines persischen Haakim zu nennen, so sei erwähnt, daß er über Leben und Tod seiner Unterthanen verfügt, wobei in den meisten Fällen Geld an Stelle der gerichtlichen Strafe tritt; dann steht ihm das Recht zu, eine zu schließende Ehe zu sistieren, wenn von beiden Seiten für ihn nichts abfällt, bei Civilprozessen erhält er stets 10% der strittigen Summe etc. Ich glaube, daß aus Gesagtem hervorgeht, welch’ einem Schicksale eine Provinz verfällt, wenn sie in unrechte Hände gerät; es giebt aber leider in Persien nur solche.

Der im höchsten Grade unpopuläre Ramasan-Chan wurde also Gouverneur von Kutschan und nahm sich zum Gehilfen den ehemaligen Sekretär seines Vorgängers, Namens Mustopi-Mirsa-Najara-Kuli, dem dieser einer Unredlichkeit wegen die Fingerspitzen der rechten Hand hatte abhauen lassen. Das würdige Paar begann auch sofort seine Thätigkeit, die jedoch nicht lange währte.

Am 28. April d. J. versammelten sich nämlich vor der Kibitke des Machthabers etwa 500 Einwohner und verlangten eine sofortige Herstellung des früheren Pacht-, bezw. Steuerverhältnisses. Der Gouverneur, der sich seiner vermeintlichen Macht bewußt zu sein schien, ordnete den Worten eines zu seiner Suite gehörenden Kaukasiers Dschafar-Beck zufolge an, seine ganze Suite möge sich entfernen, und begann mit den Aufrührern zu unterhandeln, was jedoch nur dazu führte, daß schon in kürzester Zeit ein lauter Hilferuf an das Ohr seiner Leute drang. Als diese herbeieilten, war das Zelt demoliert und unter demselben lagen, durch Dolchstiche, Steine und Stockhiebe umgebracht, der Gouverneur und sein Sekretär, der genannte Mustopi-Mirsa-Najara-Kuli. Die Aufständischen flüchteten in die nächstgelegenen Dörfer und Gebirge.

In den folgenden Tagen war die Stadt wie ausgestorben. Die Rache des unmittelbar darauf bei gleicher Tributpflichtigkeit (d. h. 700000 Kran) eingesetzten Chan-Baba-Chan, der sich nach seiner Bestätigung zum Gouverneur Mirsa-Farath-Soltana nennt, fürchtend, hatten alle Kaufleute ihre Buden geschlossen, was um so geratener erschien, als der neue Machthaber ein gerichtliches Verfahren sofort als zu umständlich verwarf und seinen Untergebenen befahl, jeden der Auflehnung Verdächtigen niederzumachen.

Ich selbst wurde unfreiwilliger Zeuge einer dieser Gewaltthaten, als ich dem Gouverneur einen Abschiedsbesuch machte. Ich näherte mich gerade dem Zelte desselben, neben ihm stand Mamad-Chan, der 18jährige Sohn des erschlagenen Ramasan-Chan, als von der andern Seite ein in Ketten geschmiedeter Arrestant herangeführt wurde, der angeblich mit einem Dolch bewaffnet an der Ermordung Ramasan-Chans beteiligt gewesen sein sollte.

Wenn doch der Mensch bei unerwartet eintretenden schrecklichen Momenten nicht durch eine über ihn kommende Starre, sei es auch nur für Sekunden, am Handeln behindert würde! Noch heute kann ich mich des Vorwurfs nicht erwehren, einem Morde, ohne rechtzeitig einzugreifen, beigewohnt zu haben. Kaum erblickte nämlich der junge Mamad-Chan den Arrestanten, so zog er seinen Dolch und stürzte auf ihn los, ihm die Schneide zweimal tief in den Leib stoßend. Ehe ich noch hinzueilen konnte, hatte er den Unglücklichen förmlich in Fetzen zerschnitten. Der Gouverneur wohnte diesem Henkerwerk mit den Worten „heili hub“ (sehr gut) bei, und mir lachend zunickend fügte er hinzu, daß noch hundert Einwohnern der Stadt etwas Aehnliches bevorstehe. Ich hatte genug, und ohne mich zu verabschieden eilte ich, den Revolver in der Hand, nach der Wohnung meines armenischen Gastgebers, wo ich erst bemerkte, daß meine ganze linke Seite mit Blut bespritzt war.

Am andern Morgen ganz früh brach ich, das Herz voller Ingrimm gegen den Schah und seine schändlichen Helfershelfer, auf, und schon nach zwei weiteren Tagen überschritt ich die russische Grenze bei Haudan.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_770.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)