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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Sie sann und sann. Vergebens!

Da that sich die Thür auf. Sibylle Lenzow kam herein und stürzte auf sie zu und fing sofort jammervoll zu weinen an.

„Was hast Du, Sibylle, fasse Dich doch!“ bat Magda.

Thränen sehen, Klagen hören – heute, wo sie selbst jeder Kraft entbehrte! Nein, nur das nicht!

„Ich erwartete Dich gar nicht, nach der merkwürdigen Absage Deiner Mutter,“ sprach sie.

Sibylle stand und hielt die Fäuste an den Augen.

„O was sind es für Menschen, o was sind es für Menschen!“ stammelte sie.

Magda nahm ihr die Hände vom Gesicht. Die braunen Glacefinger waren ganz naß.

„Was ist denn geschehen?“ fragte sie. „Hat Lieutenant Wallwitz sich mit einer andern verlobt?“

Sibylle hörte sofort auf zu weinen.

„Nein,“ sagte sie stolz. „Zwar, es weiß noch niemand außer Papa und Mama, aber Du sollst es erfahren, wenn Du mir schwörst, bis Sonntag zu schweigen. Wir haben uns Sonnabend morgen verlobt, meine Tante giebt das Geld. Walfried hofft, daß seine Großmama nicht dagegen ist. Bis Sonntag wird alles geordnet sein, dann steht es in der Zeitung.“

„So hast Du doch alle Gründe, glücklich zu sein,“ sagte Magda und gab der kleinen Braut einen herzlichen Kuß. Sie hatte das offenherzige Ding lieb. „Dann begreife ich auch, daß Du nicht weiter malen willst.“

„O, es ist nicht deshalb,“ rief Sibylle, „das ist ja gerade das Schändliche! Und Gründe zum Glücklichsein habe ich auch noch nicht. Ich glaube, es schwebt ’was Gräßliches in der Luft.“

Nachgerade wurde Magda nervös. Sie nahm Sibylle bei der Hand.

„Komm,“ sprach sie, „setz’ Dich dahin und erzähle!“

Sibylle setzte sich, knöpfte ihren Paletot auf und zog die Handschuhe aus.

„Nun!“ mahnte Magda ungeduldig. Sie stand vor der Kleinen.

„Ja weißt Du denn nichts, gar nichts? Hast Du denn keine Ahnung, was los ist? Was die Leute sagen?“

Magda schüttelte ein wenig den Kopf. Aber ihre nervöse Ungeduld verwandelte sich in dumpfe Angst.

„Sie sagen,“ begann Sibylle in schwindelerregender Schnelligkeit sprechend, „daß Du ’was mit Flemming hast. In der Schweiz haben schon irgend welche Leute, ich glaube ’ne Freundin von ’ner Cousine der Deggenburg, Euch gesehen – Arm in Arm im Wald, es ist hierhergeschrieben worden – neulich. Und Du bist ein paarmal mit ihm hier spazieren gegangen. Die Frau Doktor Behrens hat ’mal im Vorbeigehen gehört, daß Ihr Du zu einander gesagt hättet. Und die alte Deggenburg, die doch Flemming vis-à-vis wohnt, hat aufgepaßt, weil doch schon mal das Gerücht lief, und sie sagt, sie habe ’mal um sechs, oder mehrfach um sechs eine schlanke, verschleierte Dame in das Haus gehen sehen, und sie schwört, das warst Du!“

Magda wurde kalkweiß. Sie stand und dachte nichts und wußte nichts zu sagen.

„Und Papa sagt, er traue Dir nichts Schlechtes und Abenteuerliches zu, und er glaube bestimmt, daß Du, wenn es so wäre, bloß wegen Deinem Vater noch nicht heiratest und daß Du regelrecht mit Flemming verlobt und nur unvorsichtig gewesen bist. Aber Mama sagt, es giebt ja so viele Verhältnisse, die eine lange heimliche Verlobung nötig machen – sie selbst war zwei Jahre lang heimlich mit Papa versprochen, bis er seinen Assessor gemacht hatte; aber, sagt Mama, eines schickt sich nicht für alle und Du, als mutterloses Mädchen, dürftest nicht heimlich verlobt sein und keinen Anlaß zu Gerede geben. Ach Magda, siehst Du, deshalb sollen wir nicht zum Malen kommen und es soll erst abgewartet werden, was weiter passiert.“

„Aber,“ begann Magda mit einem Lächeln, das wie Bitterkeit um ihre Lippen spielte, „das Fräulein von Deggenburg und die Frau Doktor Behrens kennen mich ja gar nicht.“

„Ach das ist doch dem Klatsch einerlei, ob er sein Opfer kennt oder nicht.“

In Magda war eine dumpfe Verzweiflung. Wenn ihr etwas widerfuhr, war ihr nächster Zustand immer der einer völligen Hilflosigkeit. Ihr war, als müsse sie sich rund umsehen, woher der Schlag käme und wo der Schutz dagegen sei.

„Wenn ich den Brief nicht geschrieben hätte,“ dachte sie, „dann könnte ich jetzt stolz sagen: ja ich bin mit ihm verlobt!“ Gewiß würde er in eine sofortige Veröffentlichung ihres Bundes gewilligt haben.

Sie hatte sich selbst alle Brücken zur Wiederherstellung ihres gefährdeten Rufes abgebrochen.

Aber gleich regte sich eine andere Stimme in ihr mit der Gegenfrage:

„Würdest Du aus Furcht vor dem Gerede der Welt gethan haben, was Du aus Vertrauen nicht vermagst – Deine Hand in seine legen?“

„Nein, nein, nein!“ sagte sie ängstlich laut vor sich hin.

Sie fühlte auch, wenn sie René zu Wehr und Schutz anrufen wollte, so durfte und konnte sie das trotz ihres Briefes.

Aber neben ihm zu stehen im Leben, dies schien ihr trotz ihres Mangels an Mut unmöglich!

„Ich kann mich nicht verteidigen,“ sprach sie vor sich hin.

„Aber ich könnte es,“ rief Sibylle, „und ich kann es doch nicht. Ach Magda, ich habe noch längst nicht alles vom Herzen runter. Seit Montag nachmittag lauf’ ich damit ’rum. Denk’ Dir das – seit Montag nachmittag! Ob ich’s Dir sagen soll und ob Du ’was helfen kannst? Insofern ist ja der Klatsch über René Flemming und Dich ein Glück, denn sieh, wenn ich auch weiß, daß Du nicht die verschleierte Dame warst, so ist es doch sicher, daß Du mit René Flemming gut Freund bist. Er darf und er soll mir meinen Walfried nicht totschießen! Grade wo Sonntag Verlobung sein soll!“

Sie warf sich auf die Ottomane und weinte laut.

„Was redest Du von Totschießen?“ fragte Magda am ganzen Leibe zitternd. „Ich flehe Dich an, sprich deutlich!“

Sibylle richtete sich auf, schluchzte sehr und schnupfte sich lange aus. Ihre Augen waren ganz rot.

„Montag nachmittag wollt’ ich zu Lilly gehn – Lilly war gleich gar nicht nett, als sie das von mir und Walfried hörte, sie thut immer so großartig, als ob sie mehr wäre und mehr wisse als ich – ja und trotzdem ging ich Montag ’mal hin. Und als ich in die Stube kam, wo sie saß, war sie wie besessen und hatte Weinkrämpfe und schrie immer ‚Walfried soll kommen!‘ Aber dabei hielt sie mich am Kleid fest, als ich die Großmama holen wollte. Walfried kam denn auch. Und da – nein, Magda, so ’was Schändliches kannst Du Dir gar nicht denken, da sagte Lilly einfach, ich sollte ’raus gehen, sie habe allein mit ihm zu sprechen.“

Die Kränkung empörte Sibylle noch so, daß sie ihr Taschentuch in ein Knäuel zusammendrückte vor nachträglichem Zorn.

„Ich stehe ihm doch jetzt näher als seine Schwester! Das sieht doch wohl jeder ein. Aber ich dachte an Mama, die Lilly auch greulich findet, seit wir sie näher kennen; denk’ Dir, sie schlägt auch gegen Mama einen belehrenden und blasierten Ton an. Und Mama sagt: es dauert ja nur die paar Monate mit der Lilly, nachher geht sie weg und um der alten Wallwitz wegen soll ich so lange lieber zehnmal stillschweigen als einmal auftrumpfen. Na und da ging ich in die andere Stube. Aber ich war so wütend und ich will nicht, daß jemand Geheimnisse mit Walfried hat, und da hab’ ich gehorcht.“

„Sibylle – –“

„Na ja – gehorcht, so viel ich konnte! Und da hab’ ich viel gehört – leider nicht alles und nicht im Zusammenhang. Aber es war gräßlich, wie Walfried im Zorn war. Lilly scheint ein bißchen in René Flemming verliebt gewesen zu sein – dabei ist doch gar nichts. Vorigen Winter sagte Frau von Eschen erst noch: ‚Das ist die Modekrankheit unserer Novizen‘. Und er thut doch immer so, als wenn es ihm egal sei. Sie sagen, er wirft die Briefe in den Papierkorb, die er so bekommt. Lilly ist ’mal bei ihm gewesen, sie sagt, es habe ihr keine Ruhe gelassen und sie habe es in romantischer Neugier gethan. Dabei ist schließlich doch auch nichts, man sollte es eigentlich der Deggenburg ’mal unter die Nase reiben. Warum soll man nicht ’mal hingehen und einen Freund besuchen; freilich hätte Lilly es mir sagen können, ich wäre gern mitgegangen. Aber gerade darüber schien Walfried so in Wut.“

Magda fiel beinahe neben Sibylle auf den Sitz nieder. Ihre Kniee trugen sie nicht mehr. Sie zog die eifrig Redende an sich und streichelte ihr das schwarze Haar.

„Du liebes Kind,“ murmelte sie, „Du gutes Kind!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_791.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)