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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Und dann hörte ich Walfried immer mit so rauher, halblauter Stimme sagen – ach Magda, die Stimme hör’ ich Tag und Nacht! – ,Gerade er! er! er! aber Rechenschaft soll er mir geben – blutige.‘“

Sie verbarg schaudernd ihren Kopf an Magdas Schulter.

„Nicht wahr, so dumm sind wir beide nicht, wir wissen, was das heißt. Walfried wird ihn fordern. Ach, er schießt ihn tot!“

Sie schrie es heraus und umkrallte Magdas Oberarm mit ihren Fingern.

Magda fühlte plötzlich keinen Schmerz mehr. Eisige Ruhe überkam sie. Ihre Gedanken waren ganz klar.

„René Flemming ist verreist,“ sagte sie. Ihre ruhige Stimme, ein gewisses Etwas in ihrer Haltung wirkte so bezwingend auf Sibylle, daß sie sogleich auch ihrerseits mehr Ernst als Jammer empfand.

„Ich weiß es,“ sprach sie, „ich bin seit Montag nachmittag mindestens schon zwölfmal die Ringstraße entlang, an seiner Wohnung vorbei gegangen. Montag und gestern abend war kein Licht da. Und einmal sah ich den Lieutenant von Keller hineingehen in Flemmings Wohnung. Ich wartete von fern. Keller kam gleich wieder heraus. Keller ist Walfrieds Intimus. Gewiß sollte der die Förderung überbringen. O Gott, er schießt mir Walfried tot!“

Dieser immer wiederkehrende Refrain marterte die Hörerin aufs äußerste.

„Es könnte ja auch sein,“ sagte Magda und ihre Hände falteten sich fest, fest ineinander, „daß Walfried ihn erschösse – –“

„Gott – ja,“ sprach Sibylle in naiver Hoffnungsfreudigkeit.

„Glaubst Du denn,“ sagte Magda schwer, „daß das so leicht ist, einen Freund erschießen – meinst Du nicht, daß Leben oder Sterben gleich schrecklich sein kann – daß nicht beide leiden?“

Sibylle fand vor Entsetzen kein Wort. Die Sache trat in eine neue, noch schrecklichere Beleuchtung für sie.

Magda holte tief Atem.

„Höre mir genau zu,“ begann sie mit strengem Ton, während aus ihren blassen Zügen alles Leben gewichen schien, „vielleicht irrst Du Dich und Deine Phantasie hat halb erhorchte Sachen unheilvoll durcheinander gemengt. Das wird sich ja binnen vierundzwanzig Stunden zeigen, denn René ist gestern abend spät heimgekommen oder kommt heute morgen. Dann wirst Du vor Deiner Verlobung Walfried beichten, daß Du gehorcht hast.“

„Das hatte ich so wie so vor, Magda. Ganz gewiß. Mich drückt das Bewußtsein und die Heimlichkeit schon gräßlich!“ versicherte sie weinerlich.

„Und doch,“ fuhr Magda in immer demselben Tone fort, „mußt Du sie der Welt gegenüber immer tragen. Verstehst Du, immer! Wir wissen nicht, ob Wallwitz und Flemming sich schlagen werden, und alle unsere Versuche, etwas Gewisses zu erfahren, werden unnütz sein, denn dies gesteht kein Mann ein. Aber wenn sie es thun, gethan haben, dann, das merke Dir genau, darf auch nicht einmal das Gerücht davon unter die Leute kommen. Es könnte ja ganz ungefährlich verlaufen, nicht wahr? Aber wenn es bekannt wird, bekommen sie Festung!“

Sibylle nickte vor sich hin. Das begriff sie völlig. Die Sache erschien ihr immer fürchterlicher. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, an die Festungsstrafe. O, in welchen Gefahren war ihr Brautstand!

„Ich schwöre es Dir, daß ich schweigen werde,“ sagte sie fest. „Aber ich darf heut’ nachmittag und morgen und oft wiederkommen und mich aussprechen? Ich will Dir’s nie vergessen, wenn Du mir beistehst, Magda. Und Sonntag lad’ ich Dich zur Verlobung ein, ich setze es durch. Und dann wird wohl der dumme Klatsch verstummen.“

„Laß das –“ wehrte Magda ab. Der Klatsch, der sie betraf, erschien ihr jetzt als etwas so Geringes.

Sibylle ging.

Magda trat an das Fenster und schaute in den kalt klaren Tag hinaus. Von drüben her grüßte der Wald, der den Horizont verschrankte. Grün und braun standen die toten Farbentöne vor dem lichten Himmel. Der Wald schien näher gerückt, keine zitternde Sommerwärme durchwebte die Luft und gab der Ferne weiche Linien. Hart und herbe war das Bild der Natur.

Magda legte die Stirn gegen die kühlende Scheibe.

In ihrem Ohr lag noch immer der unerträgliche Nachhall der weinerlichen Mädchenstimme, die klagte: „er soll mir meinen Walfried nicht erschießen!“

Mit gramvollen Augen, thränenlos sah Magda ins Unbestimmte hinaus.

Ihre Lippen waren fest verschlossen. Und in ihrem Hirn kreiste der eine Gedanke: „Und wenn der andere ihn tötet?!“

8.

Seit jenem Tag, an welchem Nicolai erfahren, daß Magda René liebe, hatte er versucht, sich durch Arbeit zu betäuben. Seine zarte Gesundheit verbot ihm, stundenlang vor der Staffelei zu stehen oder zu sitzen und den Pinsel zu führen. Gleich that ihm Rücken und Lunge weh.

Er hatte diesen Zwang, unendlich langsam arbeiten zu müssen, nie als etwas Lästiges empfunden. Die Not drängte ihn nicht, schnell verkäufliche Sachen in nie abbrechender Reihenfolge anzufertigen. Die Zinsen eines bescheidenen Kapitals genügten seiner Anspruchslosigkeit völlig. Wenn jemand von seinen Bekannten die Summe Geldes gekannt hätte, mit welcher er jährlich auskam, er würde sich unaussprechlich gewundert haben.

Nicolai war aber zufrieden. Um sich größere Lebensgenüsse zu verschaffen, hätte er Konzessionen machen, sich mit Kunsthändlern feilschend einlassen müssen. Das hätte seiner Seele wie Roheit weh gethan und er fand eben den besten Lebensgenuß darin, sich alle Roheit fern zu halten.

„Mein Körper ist zu schwach, um das Gefäß einer robusten Gesinnung sein zu können,“ sagte er manchmal.

Ganz selten ward ihm die Freude, daß er ein Bild verkaufte, obschon das Schaufenster der Kunsthandlung, wo er in großen Zwischenräumen etwas ausstellte, immer von Menschen belagert war, wenn „ein Nicolai“ darin erschien.

Aber wenn dies sich ereignet hatte, faßte Nicolai eine scheue Zuneigung für den Käufer. Wer ihn verstand, müßte sich innerlich ihm nahe fühlen, in einer Geistesgemeinde mit ihm stehen, dachte er. Er war zu ängstlich und zu verschlossen, sich jemand aufzudrängen oder eine flüchtige geschäftliche Begegnung festzuhalten und zu weiterem Verkehr auszubauen, und so gelang es ihm nie, mit einem dieser Käufer in Beziehung zu treten. Doch konnte er sich freuen und Herzklopfen bekommen, wenn er einem begegnete.

Er legte sich dann tausend Fragen vor: ob der Besitzer des Bildes noch in einem nahen geistigen Verhältnis zu demselben stehe? Ob er mit der Zeit noch tiefer hineinsehen gelernt habe? Oder ob die Freude erkaltet sei?

Seine Kollegen schätzten ihn und sein Können ganz besonders. Sie respektierten auch seine Selbständigkeit ganz außerordentlich und trösteten sich, soweit sie in sich selbst einen Mangel daran verspürten, damit, daß er bei besserer Gesundheit auch wohl weniger unberührt von der leidigen Notwendigkeit, sich zu drücken und zu bücken, geblieben wäre. Sie sagten auch von ihm: er malt seine Bilder nicht, er träumt sie.

Und in der That, wer ihn in seinem Atelier so sitzen sah, in seiner feinen, leisen Malweise die Leinwand mit wunderlichen Gebilden bedeckend, konnte ihn wohl für einen Träumer halten.

Er war in diesen Stunden ganz glücklich, er lebte in einer anderen Welt und von der Wirklichkeit um ihn blieb nichts in seinem Erinnern als die Liebe für Magda.

Sein bestes Bild, das, welches er für sein bestes hielt, „Die Stimmen des Frühlings“, hatte er ihr geschenkt. Und seit sie es freudig angenommen, war ihm, als sei ein Teil von ihm immer bei ihr, als bestehe zwischen ihnen ein untrennbares geistiges Band.

Niemals dachte er daran, daß sie lieben, heiraten, fortgehen könne. Das stille Leben, das sich seit vier Jahren so immer gleichmäßig abgesponnen, mußte, so meinte er, immer dauern. Es schien so natürlich und so ihnen allen gemäß, daß Nicolai nicht einmal die Furcht bekam, es könnte sich je verändern.

Im Sommer, wenn Magda mit Frau von Eschen aufs Land ging, gönnte auch er sich vierzehn Tage Waldluft, die er in einem Försterhaus in den nahen Bergen verbrachte. Mehr gestattete seine Kasse nicht.

Aber er hätte auch gar nicht länger fortbleiben mögen. Er wußte, was Sterben heißt, was ewige Trennung und Nimmerwiedersehen bedeutet. Er hatte all die Seinen hingehen sehen, ein unglückliches Geschlecht, das geboren ward, um hinzusiechen. Er wollte sich keinen Tag Magdas Gegenwart und Nähe rauben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 792. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_792.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)