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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Er wollte die Hand von sich stoßen und zur Thür schreiten. Aber Magda ließ ihn nicht.

„René!“ flehte sie noch einmal. Sie wußte nichts zu sagen, sie durfte nichts sagen. Er mußte ihren Ton, ihre Herzensangst verstehen.

Und er verstand sie nur zu gut. Sein Wesen war aus den Fugen – es gab nur ein Mittel, es wieder aufzurichten: Rauhheit, Härte.

„Laß mich!“ sagte er und stieß sie zurück.

„Geh’ nicht so von mir!“ bat sie. Ihr Angstblick war ihm unerträglich. Ihr Jammer verzehnfachte seine schmerzliche Erregung.

„Genug – was willst Du? – wir sehen uns morgen wieder – dann sprechen wir über Deinen thörichten Brief,“ sagte er. „Leb’ wohl!“

Das kurze Staunen, von dem sie sich erfaßt fühlte, benutzte er und floh hinaus.

Er sprach von dem Brief? In plötzlichem Einfall? Oder war dies der Grund seines rauhen Tones? Und verbarg sich nicht ein anderes, schreckliches Vorhaben hinter seiner Rauhheit?

Von Zweifelsgedanken gepeinigt, kehrte Magda an das Krankenbett zurück. Der Doktor erhob sich.

„Ich gehe jetzt,“ sagte er leise. „In einer Stunde komme ich wieder. Sie können inzwischen noch einmal Kampfer geben. Aber Sie wollen doch nicht allein...?“

„Der Wärter meines Vaters kann mitwachen und Frau Böhmer wird gewiß so gut sein, nach meinem Vater zu sehen,“ sprach Magda.

Die Böhmer, welche gerade wieder von ihrer Küche her ins Zimmer trat, nickte zustimmend.

Magda begleitete den Arzt nicht zur Thür, sie fragte nicht, auch nicht einmal mit einem Blick, ob noch Hoffnung sei. Auch dachte sie nicht mehr daran, nach Schönchen zu schicken.

Es war ja vorbei, rettungslos! Und Gott mochte dem edlen Freunde nun ein ruhiges Sterben schenken!

Sie setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett, so daß sie Nicolai voll ins Gesicht sehen konnte, und nahm wieder seine Hand.

Er fühlte es sogleich und schlug die Augen auf.

Jetzt gab er sich keine Mühe mehr, seine Liebe zu verbergen. Mit einer andächtigen Zärtlichkeit sah er in das geliebte Gesicht.

Und Magda fand die Heldenkraft, ihm liebevoll zuzulächeln, bis seine Lider wieder herabsanken.

Dann fiel die Maske von ihrem Antlitz. Ein unendliches Weh, eine tödliche Angst lag wieder auf demselben. Morgen vielleicht, um eben diese Zeit, lag René da wie der arme Nicolai! Gebrochen und sterbend! Aber nicht mit heiterem Frieden in der Seele, sondern mit dem Trotz gegen das Geschick, das ihn, den Lebensfreudigen, zum Tod verdammte, das ihn, den Vielgeliebten, ohne Liebestrost sterben ließ!

„Wenn ich ihn nicht verstand,“ dachte Magda, „sein Richter durfte ich nicht sein – das nicht! Ich durfte ihm nie Mangel an Willensstärke vorwerfen, es ist das Schlimmste, was man einem Mann sagen kann!“

Wenn sie ihn niemals wiedersah als einen Lebenden! Wenn dies ihr Abschied gewesen war für ewig!

Der Sterbende bemerkte an dem Zucken ihrer Hand, daß sie schluchzte.

Er hielt ihre Hand mit seiner letzten Kraft ein wenig fester. Er sah die Weinende an.

Sie fühlte den Blick und neigte sich nieder zu ihm.

Welche heilige Dankbarkeit in seinen Augen für die Thränen, die nicht um ihn flossen!

„Nicht weinen,“ flüsterte er, „es thut nicht weh – das – Sterben.“

Sie begriff seinen Irrtum und ihre Thränen flossen heftiger, jetzt mit um ihn, der sie so treu geliebt.

Die Trauer um den gegenwärtigen Verlust und die Angst um den gefürchteten vermischten sich miteinander und ließen sie jede Haltung verlieren.

Nicolai aber sah sie an. Seine Augen glänzten und in sein Herz zog selige Freude. Sie hatte ihm also viel mehr Liebe gegeben, als er je zu hoffen gewagt – er war ihr also teuer gewesen – sie weinte – nicht aus Mitleid, sondern aus verzweifeltem Kummer!

Der Wahn durchglühte seine Seele und trug sie wie auf Sehnsuchtsfittigen in hohe, reine Gefilde.

Mit der Wonne dieses Glaubens durfte er hinweg gehen! Selige Ahnung – die ihn einst geheißen hatte, jenes Bild mit dem Engel des Glücks zu malen!

Nun war es Wirklichkeit geworden und als der Engel stand Magda neben ihm und brachte ihm das Glück.

Seine Augen richteten sich himmelwärts. Sie schienen nicht die Decke der Stube zu sehen, sie schienen durch weite Räume in die Unendlichkeit zu blicken.

Magdas Thränen versiegten. Sie faltete die Hände. Ihr Herz ward von Schauern der Andacht durchbebt. Sie begriff, wen sie verlor, was sie verlor. Gestern noch hatten diese blassen Lippen sie gefragt, was sie betrübe. Morgen würden sie nichts mehr fragen. Ein treues Herz weniger für sie in der Welt fortan – – –

So kam der Tod zwischen Gestern und Morgen und wischte mit seiner Geisterhand ein Menschendasein hinweg von den Tafeln des Lebens. Und morgen konnte es geschehen, daß eben diese furchtbare Hand ein anderes Leben auslöschte …..

Alle Stimmen des Stolzes und des Verstandes schwiegen in Magda. Sie wußte nur dies eine: wäre sie jetzt mit René allein gewesen, sie wäre in seine Arme gefallen und hätte ihm gesagt: „Ich liebe Dich! Lebe! ich will Dich ertragen, wie Du bist!“

Nicolai schien leiser zu atmen und sich erleichterter zu fühlen. Die Lebenskräfte gingen rasch zurück, die körperliche Not ward geringer.

Eine lange Stille trat ein.

Magda sah ihn aufmerksam an. Sie dachte über ihn nach. Er war ein Mensch gewesen, der jenseit aller Versuchungen stand. Es gab keine edle Eigenschaft, die ihm nicht natürlich gewesen. Er war vornehm, rücksichtsvoll, wahr, treu – ein Mann, wie ihn eine Mädchenphantasie sich ausmalt.

Vielleicht, ohne daß Magda sich dessen bewußt geworden, hatte sie ihre Anforderungen an das Wesen des Geliebten nach diesem Beispiel gestellt, das ihr seit Jahren täglich nahe war. Und heute erst fragte sie sich, ob man das Maß für andere nach einer solchen Erscheinung nehmen dürfe.

Seit Nicolai denken konnte, trug er sich mit dem Bewußtsein, daß er jung sterben müsse. Welche Einwirkung mußte dies Bewußtsein nicht auf seine Entwicklung gehabt haben! Er mußte immer davor zurückgebebt sein, seine kurze Spanne Leben mit Kämpfen und Unschönem zu trüben. Er mußte immer darauf bedacht gewesen sein, sich harmonisch zu fühlen mit allen und allem, damit er bei jähem Scheiden keinen Groll in unversöhnten Herzen hinterlasse. Er hatte die Eigenart seiner Persönlichkeit nie kühn an der einer anderen messen können, denn er wußte, daß ihm die nächste Stunde den Kampf abschneiden könne.

Ein niedrig beanlagter Mann hätte versucht, seinen Groll auf das Geschick in tollen Lebensfreuden und im Haß auf Begünstigtere zu entladen.

In Nicolai hatten sich alle edlen Keime zur höchsten Vollendung entwickelt. Sein Wesen war geblieben wie lauteres Gold.

Durfte ihm das so sehr zum Ruhme angerechnet werden? Und dem anderen der Mangel solcher Unantastbarkeit so sehr zur Schuld?

Nein, tausendmal nein! Wen die vollen Ströme des Lebens rauschend umfluten, der kann es nicht hindern, daß sich in sein Gewand Tang und Algen verstricken. Nur wer so einsam steht, wie dieser Sterbende stand, mag mit unbeflecktem Kleide von hinnen gehen.

Magda sah den Freund an. In ihren Blicken war ein neues Licht aufgegangen. Der da lag, hatte ihr eine Lehre gegeben, und sie gelobte sich, daß sie ihr unverloren bleiben solle.

Er atmete unhörbar … in plötzlich erwachender Angst rief sie ihn laut an.

„Nicolai!“

Er öffnete die Augen und sah sie an. Sie las in diesem Blick, daß er bei vollem Bewußtsein war.

Seine Lippen bewegten sich. Sie legte ihr Ohr fast an die selben, um zu hören.

„Geliebte Magda!“

Sie vernahm es wie einen fernen leisen Hauch und sie neigte sich über ihn, seine Stirn zu küssen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_807.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)