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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Komödie, die seine heißersehnte Ruhe störte, und wenn er bis jetzt Lillys Andenken noch mit einer kräftigen Verachtung beehrt hatte, die schließlich doch immer eine Form nicht ganz erstorbenen Interesses ist, so wurde sie ihm jetzt einfach langweilig und er fand die ganze kleine Person mit ihrer rasch vorübergerauschten Verliebtheit für ihn gar nicht wichtig genug, als daß eine Anzahl von Männern eine Berufsstörung ihretwegen ertragen sollte.

Er klopfte bei Nicolai an und er fand Magda und fand einen Sterbenden – – –

Als er zehn Minuten später wieder auf der Straße stand, war er ein anderer geworden.

Seine Wangen waren bleich, seine Züge verschärft. Mit raschen Schritten ging er vorwärts. Es galt zunächst, einen andern Sekundanten suchen. Er dachte einen Augenblick an Bärwald, der einige Semester Medizin studiert hatte, ehe er zur Bühne ging, und als alter Corpsstudent mit allen hier in Frage kommenden Förmlichkeiten wohl vertraut war. Aber ein entschiedenes Gefühl verbot ihm, jemand vom Theater hinzuzuziehen. Er entschloß sich für den Lieutenant Bohrmann. Er nahm einen Wagen und fuhr zur Kaserne hinaus.

Bohrmann hatte gerade sein Morgenpensum an Rekrutendrillen hinter sich und lag auf seinem Sofa, angethan mit einer alten Hausjacke und niedergetretenen Pantoffeln. Es war eine fürchterliche Hitze im Zimmer, der Bursche kniete vorm Ofen und legte noch nach.

Als René fünf Minuten im Zimmer gewesen war, fühlte er sich elend und bat um die Erlaubnis, das Fenster öffnen zu dürfen. Bohrmann, ein hübscher blonder Mensch mit einem lustigen Gesicht, befand sich in einer andauernden Verlegenheit.

Kleid und Situation waren so gar nicht im Einklang; er fürchtete, beinahe lächerlich zu wirken, indem er in schlurrenden Hauspantoffeln und einer gräulichen alten Jacke die Präliminarien eines Duells besprach.

Aber René bemerkte gar nichts davon. Er hatte nur das eine Gefühl, den Fall so schnell wie möglich zu erledigen, um wieder allein sein zu können. Er drückte Bohrmann dankbar die Hand, als er ihn bereit zu dem geforderten Dienste fand. Dann eilte er davon und warf sich wieder in den Wagen.

Er schloß die Augen. Umsonst! Vor den geschlossenen Lidern, wie vor den weit geöffneten Augen stand immer dasselbe Bild: der sterbende Nicolai.

Es war doch etwas Fürchterliches: der Tod! Nur nicht daran denken, heute und jetzt! Er versuchte mit aller Gewalt, sich wieder in die gleichmütige Stimmung von vorher zu versetzen.

In seinem Gedächtnis stöberte er alle Duellgeschichten auf, von denen er je gehört. Im Grunde war nicht mehr Gefahr dabei als bei seiner Droschkenfahrt in diesem Augenblick. Tausend Menschen fahren im Wagen, mit dem Tausendundeinsten gehen einmal die Pferde durch. Alle Tage duellieren sich irgendwo ein paar Menschen, man erfährt nichts davon, alles verläuft glatt – es ist von hundert Fällen neunundneunzigmal nur eine umständliche Form der Revocierung.

René kam zu dem Schluß, daß nicht das bevorstehende Duell, sondern ganz allein der Anblick Nicolais ihn so nervös gemacht habe.

Was mußte nun erst die arme Magda leiden bei ihrem traurigen Amte!

Es durchschauerte ihn. Und es fiel ihm schwer auf die Seele, wie schroff er zu ihr gewesen.

„Ich konnte nicht anders,“ murmelte er in sich hinein, „es war meine einzige Waffe. Sonst wär’ ich weich geworden.“

Aber jetzt in diesem Augenblicke hätte er Magda neben sich haben mögen, ihre Hand still in der seinen, ihre Wange an seiner Schulter, um so in ihrer schweigenden Nähe eine harmonische Lebensfreude zu fühlen.

Daß sie ihn angerufen hatte, als ob sie um das Duell wisse, war ihm ganz aus dem Gedächtnis verschwunden oder doch als nichts Auffallendes darin haften geblieben. Er fühlte sich so eins mit Magda, daß er sich kaum gewundert haben würde, sie jetzt in seinen Hause zu finden.

Aber in seiner Wohnung war es still und leer. Auf dem Tisch lag noch der unbeförderte Brief an Magda; infolge der unterbrochenen Verhaltungsmaßregeln hatte die Wirtschafterin nicht gewußt, ob sie ihn besorgen solle oder nicht.

Was darin stand, schien René jetzt nicht wichtig genug, um eiligst mitgeteilt zu werden. Er ließ den Brief liegen.

Er versuchte zu arbeiten. Er fand, daß er nicht einmal imstande war, die skizzenartigen Aufzeichnungen aus dem „Posthorn“ in klare Notenschrift zu übertragen. Er warf die Feder hin und setzte sich an den Flügel. Die Töne thaten ihm weh und er fühlte ihre Resonanz im Magen mit körperlichem Schmerz – ein Zeichen höchster Nervosität.

Wie bleiern die Zeit schlich! Wenn doch nur Bohrmann erst käme!

Ob Nicolai schon ausgeatmet hatte? Was für Stunden die arme Magda an dem Totenbett durchleben mochte! Sie verlor in jenem einen guten, ja ihren besten Freund.

„Er hat ihr mehr wohlgethan als ich,“ sagte er sich voll Selbsterkenntnis. „Was hab’ ich ihr denn gebracht als Qual und Unruhe! Und jetzt wieder … sie wird vor Sorgen vergehen. Als ich in ihr Leben trat, dachte sie, es sei das Glück. Vielleicht ist es das Unglück gewesen – jedenfalls beides zusammen – vielleicht ist es immer so bei einer wahren tiefen Liebe – sie wird dem rechten Weib zugleich Wonne und Schmerz.“

Bohrmann hätte schon längst da sein können. Rastlos ging René durch die Flucht seiner Zimmer hin und her.

„Ich bin das Warten nicht gewöhnt,“ sagte er sich. Seine Stirn feuchtete sich vor Ungeduld. Daß zur selben Stunde andere für ihn verhandelten und besser über das Bevorstehende unterrichtet waren als er selbst, kam ihm fast albern vor. Er, der Nächstbeteiligte, mußte hier thatenlos warten.

„Warten – das ist eine feige Beschäftigung,“ dachte er. „Und sie macht feige! Mir wird besser werden, wenn Bohrmann dagewesen ist.“

Am Nachmittag endlich kam Bohrmann. Sein flottes Gesicht hatte einen recht ernsten Ausdruck angenommen. Er tupfte fortwährend mit den Fingern an den nach aufwärts auseinanderstrebenden blonden Schnurrbartspitzen und räusperte sich mehrfach.

Auf dem Schreibtisch brannte eine Säulenlampe, René saß davor, den Stuhl seitwärts geschoben, die Beine übereinander geschlagen, die Fingerspitzen gegeneinander spielen lassend, und wartete, bis Bohrmann sich ausgesprochen hatte. Der Lieutenant, auf einem kleinen Sessel neben dem Diplomatentisch, war vom Licht, das durch einen orangefarbenen Schirm brach, mit warmem Schein wie übergossen.

Es war alles in Ordnung. Sie begnügten sich jeder, Wallwitz wie René, mit einem Sekundanten. Doktor Magius wollte René, der Stabsarzt Doktor Friedrichs Wallwitz beistehen. Als Unparteiischen hatte man den Lieutenant von Plüskow gewählt. Waffe: Pistolen. Schauplatz: die Moorwiese, morgen früh halb Neun. Bedingung: zehn Schritte Distanz und gleichzeitiges Schießen, dreimaliger Kugelwechsel.

Bohrmann erzählte sehr umständlich, René aber hörte und hielt sich nur an die wichtigen Hauptpunkte. Ihm kam es vor, als ob die Sache nun erst wirklich geworden sei, aus einem Spiel der Phantasie sich zur Thatsache gestaltet habe. Als habe er vorher nur daran gedacht wie an etwas, das ihn selbst kaum etwas angehe.

Morgen früh halb neun Uhr sollte er sich schlagen, allmächtiger Gott, und warum – –!

Ein bitteres Lächeln ging um seinen Mund. Bohrmann beobachtete ihn sehr aufmerksam.

„Sie sind nervös, lieber Flemming,“ sagte er voller Sorge.

„Nein, nein,“ behauptete René hastig.

„Wer wäre das auch nicht, am Vorabend eines Duells,“ sprach Bohrmann weiter. „Gewiß betreten Sie beide das Terrain mit dem Vorsatz, einander zu schonen. Wie sollte auch Wallwitz, der sie so lieb gehabt hat, daran denken mögen, Sie übern Haufen zu schießen! Und wie sollten Sie zu der Kränkung, die Wallwitz durch Sie erfuhr, noch die Absicht fügen, ihn zu töten – – aber doch, lieber Flemming – in solchen Augenblicken ist das Schicksal unberechenbar und die sichersten Schützen können nicht für den Lauf einstehen, den ihre Kugel nimmt.“

René fuhr aus schwerem Nachsinnen auf. „Nein, gewiß nicht, ich habe nicht den Vorsatz, Wallwitz ein Haar zu krümmen,“ sagte er halblaut, „aber, daß ich mich hinstellen soll und ihm meine Brust darbieten – ihm – –“

Er verstummte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_811.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)