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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Außen, auf die achte Seite, schrieb er mit großen festen Buchstaben nichts hin als dies:

„Magda, ich liebe Dich! Meine Seele ist Dir nicht untreu gewesen. Du darfst Dich ihr vermählt fühlen, als wärest Du mein Weib geworden. Lebe wohl und sei mein starkes Weib!

Dein René.“ 

Dann nahm er ein anderes Blatt und schrieb an Hortense:

„Teure, hochverehrte, gütige Freundin, geben Sie den beigeschlossenen Brief an Magda, wenn Sie bis morgen mittag von mir keine andere Bestimmung hören.

Immer Ihr dankbar ergebener 
René Flemming.“ 

Als das doppelte Schreiben fortgetragen war, schien ihm, als habe er geordnet, was für ihn zu ordnen war.

„Ich will zu Bett gehen,“ dachte er, „ich brauche meine Nerven.“

Ein ganz seltsames Gefübl trieb ihn an, alle seine Papiere, die zu seinem Musikdrama gehörten, mit sich in sein Schlafzimmer zu nehmen. Er mußte seinen Schatz ganz nahe bei sich haben. Fast liebkosend schichtete er die Blätter zusammen auf der Marmorplatte seines Nachttischchens.

Lange lag er mit geschlossenen Lidern wach und bemühte sich, Magdas liebes, blasses Gesicht und ihre ernsten Augen vor sich zu zaubern.

Es war und blieb still in seinem Innern. Der Gedanke an das Leid seiner Geliebten breitete eine Art Andacht aus in seiner Seele. Er konnte nicht schlafen und er wollte auch nicht schlafen.

Er faßte auch keine Vorsätze und that sich keine Gelöbnisse für den Fall, daß alles glücklich ablaufen sollte.

Mit einem tiefen und gesammelten Ernst sah er dem Unabwendbaren entgegen.

Die schleichenden Stunden der Nacht wurden ihm nicht lang, sie waren ausgefüllt von Gedanken. Er erstaunte fast, als draußen ein erster Menschentritt vorbeischlurrte und bald danach ein Wagen dahinrasselte, daß es im Haus wiederschütterte. Als er Licht machte, sah er, daß es sechs Uhr war.

Er stand auf. Ihn fror es. Langsam und in genau derselben Reihenfolge wie jeden Tag machte er seine Toilette.

Seine Wirtschafterin brachte ihm den Thee. Er trank mit durstigen Zügen.

Draußen lag noch die Nacht auf den Gassen, nur oben fing der Himmel an, sich mit einem leisen Grau zu durchwirken.

Eine Droschke fuhr vor.

René nahm seinen Pelz um und war noch damit beschäftigt, ihn zuzuknöpfen, als Bohrmann eintrat. Der sah ernst aus und trug Civil.

Sie drückten sich die Hand.

„Geschlafen?“ fragte Bohrmann.

„Nein,“ sagte René mit klarer Stimme, „aber mir ist ganz wohl. Ich empfinde keine Spur von Nervosität.“

„Bravo, bravo!“ meinte Bohrmann und klopfte ihm wohlwollend und ermunternd auf die Schulter.

Doktor Magius war aus Vorsicht im Wagen sitzengeblieben. Als René nun zu ihm einstieg, drückte auch er ihm herzlich die Hand.

Der Wagen fuhr davon. Die Männer schwiegen.

Bohrmann erwog, ob ein zerstreuendes Gespräch angebracht sei. Er war schon ’mal Sekundant gewesen, bei einem Duell, das fröhlich und mit einem großen Champagnerfrühstück geendet hatte. Damals hatte der Duellant ihm nachher gesagt: „Bohrmann, wenn Sie ’mal wieder jemand nach’m Terrain begleiten, zieh’n Sie nicht solche Leichenbittermiene auf. Wenn ich Disposition zur Todesfurcht gehabt hätte, würde ich sie von Ihrem Gesicht gekriegt haben.“

Aber Bohrmann wußte nicht recht, ob Flemming nach seinem Vorgänger artete. Auch hatte Bohrmann eine dumpfe Ahnung, daß es heute nicht mit einem Champagnerfrühstück enden werde. Er beschloß bei sich, abzuwarten und jede etwa von René oder dem Doktor fallende Bemerkung aufzugreifen. Schweigen kann nie taktlos sein, sprechen sehr leicht. Und die Erfahrungen bei einem Duell reichten sicher nicht aus, das Benehmen bei einem anderen zu bestimmen. Er hatte einmal einen berühmten Duellanten sagen hören, kein Zweikampf gleiche dem andern, es sei jedesmal etwas völlig Neues und Ueberraschendes.

Doktor Magius schwieg, weil er müde war. Man hatte ihn in der Nacht herausgeklingelt gehabt und das lag ihm noch in den Gliedern.

Auf den sandigen Waldwegen fuhr der Wagen fast geräuschlos dahin. Die Fenster waren beschlagen, die Luft war dumpf.

René seufzte einmal und legte die Hand an den Fenstergurt.

Mit ungeheurer Beflissenheit griff Bohrmann zu, und den Gurt schon hochhebend, fragte er:

„Soll ich öffnen?“

„Bitte!“

Die herbe Frühluft schlug mit eisigem Atem herein. Magius riß die Augen auf, schauerte zusammen und wickelte sich fester in seinen Pelz.

„Darf ich Ihnen eine Cigarette geben?“ fragte Bohrmann, um nur etwas zu thun.

René nahm sie gern.

Sie schwiegen wieder.

Draußen war ein bleifarbenes Dämmern zwischen den Bäumen. Der Tag kroch herauf am wolkenlosen Winterhimmel. Die Tannenstämme wurden rötlich und erkenntlich, aus dem grauen Morgen trat das Grün des Nadelwaldes hervor: der Tag gewann Farbe und Licht.

Plötzlich fragte René: „Ist Nicolai tot?“

„Ja,“ sagte Magius. „Ich höre, er ist mit einem Lächeln und leicht eingeschlummert.“

„Armer Teufel,“ murmelte René, „das war kein Mann und kein Leben. Das war ein feiner Träumer, der ein Schattendasein führte.“

Bohrmann wurde unruhig. Wenn schon gesprochen werden sollte, war dies ganz gewiß kein Gespräch für jetzt: über einen Freund, der eben gestorben war.

„Ich habe schon ’mal auf der Moorwiese ’ne Affaire gehabt,“ begann er, „es war die Geschichte mit Krausneck und dem Hauptmann Morgens. Keiner wurde verwundet. Sie vertrugen sich gleich. Ich bin überhaupt ein Anhänger von der Versöhnung auf dem Terrain.“

Das hatte er einmal irgendwo gelesen und die Wendung sehr hübsch und elegant gefunden. Sonst hatte er in diesen Dingen gar nicht soviel Praxis, um sich eine Theorie bilden zu können.

René hörte nicht zu. Magius aber nahm das Gespräch auf, denn er war seiner Zeit auch dabei gewesen und die beiden Herren vertieften sich in die Erinnerung an all die damaligen Geschichten.

René sah zum Fenster hinaus. Es ward heller und heller. Der klare Himmel stand noch ohne Glanz, aber er war wolkenlos und licht.

Dem vorgeschrittenen Tag nach mußten sie bald an der Moorwiese sein.

Er zog die Uhr. Es war beinahe ein Viertel nach Acht.

„Wir werden zu spät kommen,“ sagte er.

Es kam Bohrmann vor, als hätte die Stimme scharf geklungen. Vielleicht fand Flemming es taktlos, daß sie sich so lebhaft unterhalten hatten. Er guckte zum Wagenfenster hinaus, gerade lag links am Weg eine Kiefernschonung.

„Wir sind in zehn Minuten da,“ erklärte er. Die zehn Minuten verrannen in Schweigen.

René sah immer hinaus, wo wie ein Wandelbild die Mauer des Waldes an ihm vorbeizog. Sein Gesicht war unbeweglich, sein Auge groß und klar.

Der Wagen hielt. Als die drei Insassen ausstiegen, sahen sie, daß von der anderen Seite her eben auch eine Droschke kam. Es mußte Wallwitz und Keller sein, denn Plüskow und der Stabsarzt waren aus Klugheitsgründen auf Plüskows Jagdwägelchen, das der Bursche lenkte, hinausgefahren.

René ging mechanisch hinter Bohrmann her, sie hatten noch fünf Minuten am Saume der Kiefernschonung entlang zu gehen, ehe sie auf die Moorwiese kamen.

Dort stapften schon der lange Plüskow und der Stabsarzt Friedrichs auf und ab. Es war sehr kalt und Plüskows Gesicht schimmerte blau und rötlich.

Man begrüßte sich mit schweigendem Ernst. Dicht hinter René und seinen Begleitern kamen Wallwitz und Keller daher. Sie lüfteten die Hüte, René und Wallwitz sahen an einander vorbei.

Während der knappen Minuten, wo die Formalitäten erledigt wurden, stand René und sah die Landschaft an, als sei er zu dem einzigen Zweck hergekommen, sie zu bewundern.

Die Moorwiese war ein kleines Hochplateau, zu dem man auf sanft ansteigenden Wegen gelangte. Kiefernwald und Schonung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_823.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)