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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

umgab sie wie ein graugrüner Wall. Die struppige Grasnarbe, die den zerklüfteten Boden bedeckte, war braun angefroren.

Birken standen vereinzelt und in Gruppen umher. Ihre weißen Stämme wuchsen anmutig, wie viele Blumenstengel aus einer Zwiebel, zu mehreren aus einer Wurzel empor, das feine, braune Gezweig ihrer melancholisch gesenkten Wipfel hing wie Trauerschleier hernieder.

Mitten auf dem Platz befand sich ein teichähnliches, flaches Gewässer. Es war still und blank überfroren. An seinem Ufersaum spießten sich die harten Halme des Riedgrases durch das Eis empor.

Die Sonne war aufgegangen und gab den weißen Baumrinden einen rosigen Schein. Im Eise des Teiches spiegelte sich das nächste Bouquet von Birkenstämmen so klar wieder, als sei da blinkendes Wasser.

Mit lautlosem Flügelschlag flogen ein paar Raben hoch über die Lichtung dahin.

„Bitte!“ sagte Bohrmanns Stimme neben René.

Er folgte wie gedanken- und gefühllos. Er hatte weder Furcht noch Zuversicht, noch irgend ein Gefühl besonderer Erregung. Es war, als handelte er unter einem Bann.

Dann fand er sich, mit der Pistole in der Hand, seinem Gegner gegenüber.

Er sah ihn an. Und plötzlich ging es wie ein Erwachen durch all’ seine Glieder.

Er begriff, daß er da stand, um auf Leben und Tod zu streiten. Alles in ihm empörte sich.

Eine Vision äffte ihn. Neben Wallwitzens finsterem, feindlichem Gesicht sah er ein anderes, ein lachendes Gesicht mit einer zackigen, dunklen Zahnlücke im Perlengebiß. Und wie ein Ekel schüttelte es ihn, daß er diesen Mund geküßt, der ihm jetzt so raubtierähnlich erschien.

Und darum?! Darum?!

Seine Brust dehnte sich, er hob das Haupt höher. Jeder Nerv in ihm spannte sich an und seine Nasenflügel bebten.

Er stand nicht mehr da als ein Mann, der in ritterlicher Haltung einen Ehrenhandel abwickelt. Er stand da als einer, der sein wertvolles Leben verteidigen will und sich dagegen aufbäumt, es um einer Thorheit willen dran zu geben.

Seine Hand, die ausgestreckt die Waffe hielt, war kalt und fest wie Eisen.

Sekundenlang Totenstille –

Und dann das Kommandowort.

Der kurze, scharfe Doppelhall verrollte rasch in der Luft. Zwei kleine bläuliche Wölkchen flockten auf.


10.

In einer höchst unbehaglichen Stimmung saß Hortense von Eschen bei ihrem Morgenthee. Sie war gestern abend in einer Gesellschaft gewesen, wo sie zu ihrer grenzenlosen Erbitterung erfahren mußte, daß die Gerüchte über René Flemming und Magda Ruhland einen sehr häßlichen Charakter angenommen hatten. Frau von dem Busche sagte es gerade heraus, daß ihre Tochter nicht mehr bei Magda malen solle, bis man genau erfahren, was an der Sache sei.

Hortense hatte sonst den Mund sehr auf dem rechten Fleck; wenn sie jemand verteidigte, konnte der Angreifer gewiß sein, den kürzeren zu ziehen. Aber hier blieb ihre Verteidigungskraft gebunden. Es war ja wahr, René und Magda hatten in jenem Schweizerdorf Arm in Arm die Wälder durchstreift; es ließ sich ja nicht leugnen, sie hatten in Leopoldsburg an manchem Nachmittag zusammen weite Spaziergänge unternommen. Hortense konnte noch so lebhaft für die harmlose Unschuld dieser Thatsachen eintreten, man entgegnete ihr:

„Gut, dann sollen sie sich verloben, damit man weiß, woran man ist.“

Sie konnte nicht antworten: „Sie waren es, aber seit einigen Tagen ist alles aus.“ Neben dem großen Kummer, den ihr die ganze Geschichte, Magdas wegen, bereitete, empfand sie auch noch einen recht kräftigen allgemeinen Aerger. Sie gab sich Betrachtungen über die Verlogenheit der Gesellschaft, über die Unnatur der Sitten hin.

Gesetzt den Fall, René und Magda wären gar kein heimliches Brautpaar gewesen, sondern nur zwei Menschen, die sich als gute Freunde schätzen und im traulichen Verkehr voneinander geistigen Gewinn ziehen, dann hätten sie auf diesen unschuldigen, förderlichen, ja edlen Verkehr verzichten sollen? Bloß weil er ein Mann und sie ein Weib war? Welche Albernheit eigentlich!

Wie viel innere Unabhängigkeit gehörte doch dazu, inmitten der Gesellschaft einfach und wahr zu handeln! Hortense hatte sie ihr Leben lang gehabt. Wenn ihr jemand gefiel, zog sie ihn zu ihrem nächsten Verkehr mit heran – und sah in ihm nur den wertvollen Menschen, nicht den Mann oder das Weib.

„Wenn man immer auf der konventionellen Oberfläche bleiben sollte, so wäre es ja Unsinn und Zeitverschwendung, unter Menschen zu leben, und man hätte mehr von der stillen Sammlung eines Einsiedlerdaseins,“ sagte sie manchmal. „Obenauf, von außen sind die Menschen fast alle egal. Sie kommen aus der Münze der Kultur. Erst wenn man das Typische abstreift und der Persönlichkeit nahe kommt, lohnt es sich manchmal, mit jemand umzugehen.“

Manchmal – im Grunde genommen auch selten genug. Inmitten ihres glänzenden Lebens war sie immer ein bißchen wie Diogenes mit der Laterne auf der Suche nach Menschen gewesen. In René Flemming hatte sie einen gefunden.

Und den vielleicht mußte sie jest verloren geben. Da er mit Magda so gebrochen hatte, konnte Hortense nicht gut die Freundschaft mit ihm weiter pflegen. Sie war ein loyaler Mensch, und obschon es ihr herzhaft weh that, den frischen, arbeits- und lebensfrohen René nicht mehr sehen zu sollen, fühlte sie doch, daß sie dies der armen Magda schuldig war. Sie mußte die Möglichkeit hinwegräumen, daß Magda den verlorenen Geliebten bei ihr traf.

Es fiel ihr gar nicht ein, über René den Stab zu brechen.

Sie schätzte ihn nach dieser That um keinen Deut geringer.

Das in seinen Adern so übermäßig rasch und feurig pulsierende Blut hatte ihn fortgerissen, hinein in eine Lage, wo er dem treuesten Herzen wehthun und es vielleicht für immer verlieren mußte. Das, so wußte Hortense, strafte sich schon von selbst. Sie hatte noch niemals gesehen, daß das Schicksal einem etwas schenkte. Auch René würde bezahlen müssen – wahrscheinlich mehr und schwerer, als er es sich jetzt noch vorstellte.

Immerhin mochte er den Verlust von Hortensens Haus als eine dieser Folgen ansehen. So leid es ihr that – es ging wahrscheinlich nicht anders – sie mußte um Magdas willen auf seinen Umgang verzichten. Wenn er sich wirklich mit Lilly Wallwitz verlobte, war der Grund für die Welt leicht gefunden. Sie konnte nur sagen, und zwar der Wahrheit gemäß, sie liebe diese Lilly nicht.

René schien übrigens selbst so etwas von der Notwendigkeit, fortan ihr Haus zu meiden, zu fühlen. Er hatte ihr da gestern abend einen Brief für Magda geschickt und ein paar Zeilen dabei, die Hortense sehr beunruhigten, denn sie waren unterzeichnet: „immer Ihr dankbar ergebener“. Dies Wort „dankbar“ fiel Hortense auf die Nerven. Er war einer von den wenigen, ach, so wenigen, die das Wort Dankbarkeit niemals im Munde führen, von denen man aber mit Felsensicherheit weiß, daß sie in ihrer Seele tief und treu diese Empfindung hegen. Wenn Hortense ihm einen Dienst erwiesen – und sie war wahrlich sein fürsorglicher Geist gewesen – hatte René allerhöchstens kritische oder gar kühle Worte dafür gefunden. Aber sie wußte: er vergaß keine Freundschaftsprobe und verwuchs ihr nach jeder nur fester.

In seinem Munde hatte die Versicherung von „Dankbarkeit“ so etwas Abschiednehmendes, Letztes. Es klang wie ein Lebewohl.

Und was wohl in dem Brief an Magda stand? Es war doch alles aus zwischen den beiden. Hatte auch er vielleicht erkannt, daß die Umwandlung von dem bräutlichen in ein geschwisterliches Verhältnis ein Unding sei, und schrieb er nun in diesem Sinne noch ein allerletztes Lebewohl an Magda?

Hortense seufzte einmal über das andere und erwog, was sie nun alles zu thun habe. Denn Magdas Ruf wiederherzustellen, lag ihr ob. Dazu gab es nur einen Weg: die Herzogin.

Diese mußte bewogen werden, sich einmal wieder persönlich nach dem Befinden der armen alten Excellenz Ruhland zu erkundigen.

Vor einem Jahr war die hohe Dame zuletzt bei dem Leidenden vorgefahren. Dann mußte die Herzogin Magda zu einem Theeabend einladen. Hortense kannte die hohe Frau: unter all’ dem programmmäßigen Wohlthun hatte sie sich ein warmes Herz bewahrt, an das man nur in der richtigen Weise anpochen mußte. Die Herzogin hatte ja auch selten Zeit, ein Weib zu sein; ihr Beruf legte ihr die Pflicht ob, immer als „Vorbild“ dahin zu leben, und ihre Angst vor der Welt die Pflicht, immer die harmonisch glückliche Gattin zu markieren. Denn die Herzogin war keine mutige Natur und auch keine stolze. Aber im tiefsten Grunde eine barmherzige. (Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 824. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_824.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)