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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Ein einfacher Strick, wie auf dem Bilde S. 828 ersichtlich, teilt einen schmalen Streifen des Rathaussaales ab. Vor ihm sitzt und steht die Menge, Männer, Weiber und Kinder. Trotz der Mittwinterzeit ist es erdrückend heiß, aber niemand scheint die Hitze zu spüren. Jeder wickelt sich fester in seinen Mantel, und die Wangen der Kleinen erglänzen blau und rot. Eine Schelle klingt, und hinter dem Strick beginnt das Spiel. Da kommt ein seltsames Paar gezogen, das sich auf der Reise befindet und in der Winterkälte nach einer Herberge sucht, nach Unterkommen für eine einzige Nacht; die hübsche junge Frau mit den runden roten Backen, die ausschaut wie eine dralle Bäuerin, weint und klagt über die Kälte und die harten Menschen. Aber das trägt ihr von dem gebrechlichen Greis, der sie begleitet, nur Schelte ein. Obgleich er, nach seinen Schritten zu schließen, lahm scheint, thut er doch, als könne und werde er die Welt erobern. Mit einem Knüttel donnert er an die nächste Thür und schreit um ein Nachtlager. Aber da kommt er schön an. Aus der Thür kommt der Wirt und putzt ihn weidlich herunter. Er, der ehrsame Zimmermann von Nazara in Galiläa, muß sich hier einen Herumtreiber schimpfen lassen. An einer anderen Thür ergeht’s ihm nicht besser, und so bleibt ihnen nichts übrig, als ins Gemeindehaus zu gehen. Da sieht’s freilich schlimm aus. Ein Dach hat’s nicht. Unhold fährt der Wind herein, und schaurig kalt prasseln die Flocken nieder. Kaum zum Stalle taugte der Raum, und doch haben sich Ochs und Esel dahin verkrochen. In diesem Raum wird das Jesuskind geboren, und nun scheint einen Augenblick eine andere Welt sich aufzuthun. Aus unsichtbarem Munde ertönt ein kräftiger Chor: Gloria in excelsis Deo. Die Kinderaugen werden immer größer, und die Erwachsenen fühlen sich andächtig gestimmt. Aber schon wischt ein anderer Eindruck diese Stimmung wieder hinweg: in der Mitte die Wiege mit dem Säugling, rechts und links eins der Eltern auf einem Strohsessel. Mit dem Fuße den Wiegenbügel kräftig tretend, singt Maria:

„Josef, lieber Vetter mein,
Hilf mir wiegen das Kindelein,“

und noch ehe Josef antworten kann:

„Gerne, liebe Base mein,
Helf’ ich Dir wiegen das Kindelein!“

stimmt die ganze hundertköpfige Menge den ihr wohlbekannten Sang an, und es bedarf des Einschreitens der Spielhelfer, um sie zu verhindern, sich augenblicklich am Wiegen des Kindes zu beteiligen. Diese Gefahr wächst noch bei dem, was unmittelbar folgt. Dem alten Josef erstehen plötzlich mehrere Diener; eine Reihe Jungfrauen kommt, noch ein paar Engel stellen sich ein; da ist’s denn nur zu natürlich, daß sie alle sich die Hände reichen und rings um die Wiege hopsen; denn ein Tanz ist’s nicht zu nennen. Die Menge steht auf. Im Nu ist die Wiege trotz der Schranke des Strickes in die Mitte des Raumes geschleppt, und die gesamte Zuschauerschaft tanzt und tobt im Reigen darum. Während die Wiege fast gefährlich hin und her schwankt, braust ringsum der Sang: „Josef, lieber Vetter mein“, und die Beine stehen nicht eher still, als bis die allgemeine Erschöpfung dem Tosen ein Ende macht.

Die Schauspieler trennen sich wieder von den Zuschauern und nehmen die Wiege mitsamt dem Holzkinde mit; denn nun soll nach dem kleinen Zwischenspiel der zweite Akt beginnen. Ein halbes Dutzend verschlafene Gesellen, die Hirten, liegen kreuz und quer übereinander auf dem Boden und schnarchen, daß alle Wände beben. Ein Engel in langem weißen Hemd tritt auf und macht an ihnen Weckversuche. Aber er muß schon sehr handgreiflich werden, ehe er einen Erfolg erzielt. Auch dann wacht nur der Oberhirt auf. Der giebt dem Knechte Zechenbart mit seinem Stock einen tüchtigen Puff in die Seite. Da öffnet auch dieser die Augen. Das Publikum vergnügt sich über diese Art Schlaftrunkenheit köstlich. Der Engel hat weiter nicht wenig Mühe, den Schlafmützen klar zu machen, daß sie hingehen müssen, um dem neugeborenen Jesuskind ihre Verehrung zu erweisen. Endlich verstehen sie sich dazu, bitten es aber zugleich, ihnen recht reichliches Essen zu bescheren. Doch dieses hat wenig Verständnis für ihre Bitten. Es schreit und will versorgt sein. Josef bekommt es zum Warten. Das steht dem Alten freilich komisch zu Gesicht, und sein „Suße, liebe Ninne“ macht auf das Kind sichtlich wenig Eindruck. Er ruft die Mägde zum Warten. Aber denen gegenüber ist seine Autorität nicht besonders: sie geraten in Streit miteinander. Und als endlich die Versöhnung erfolgt ist, entsteht allgemeine Tanzbelustigung. Die Fiedel klingt. Die Engel, der harte Wirt, die Knechte kommen zum Tanze herbei gestürzt. Die Zuhörerschaft wird zum zweitenmal lebendig, und noch lange brausen die Weisen des Sanges und Klanges hinaus in die Nacht, während die Wiege mit dem Kinde vergessen in der Ecke steht.

*  *  *

Jemehr sich im Laufe des 15., 16. und 17. Jahrhunderts das kirchliche Jesusgeburtsfest zur deutschen Weihnacht, zum vollstümlichen Haus- und Familienfest entwickelt, desto mehr verliert es sein ursprünglich kirchliches Gepräge und nimmt immer neue volkstümliche Züge in sich auf. Vom Martinstag und Nikolaustag wandert die Kinderbeschenkung und das Martins- und Nikolausbäumchen hin, das bereits um 1600 hier und dort zum Weihnachtsbaum geworden ist. Der volkstümliche Kalender bildet einen ganzen Kreis von Wetterglauben der Weihnachtszeit aus, und langsam rückt allerhand Volksbrauch auf den Vorabend des neuen Festes. So entsteht ein ganzer Bau volkstümlichen Weihnachtsbrauches und Weihnachtsglaubens, und derselbe wird den breiten Massen wie den führenden Schichten halb so vertraut, daß sie der Gedanke, diese Züge könnten einstens nicht am Weihnachtsfeste gehaftet haben, ja ein Weihnachtsfest habe es einstens gar nicht gegeben, ganz fremd anmutet. Dennoch verleugnet die volkstümliche Weihnachtsfeier, namentlich im Süden Deutschlands, noch in äußerlichen Zügen lange nicht ihren Ursprung und bewahrt wenigstens noch kirchliche Namen, auch wo die Sache schon längst inhaltlich modernes Volkstum geworden ist.

Das Weihnachtsspiel wendet sich jetzt vornehmlich an die Kinderwelt. Nicht mehr die Kirche, nicht der Rathaussaal liefern die Stätte der Aufführung; die ärmliche Hütte des Bauern ist an ihre Stelle getreten. Den Ersatz für die wirkliche Bühne bietet ein Mechanismus, dessen Holzfigürchen sich beim Drehen einer Walze bewegen, und wo der Mechanismus allein nicht lebendig genug ist, hilft eine Menschenstimme aus dem Hintergrunde ober ein wenig Rotfeuer nach. Wie der Schauplatz der Weltgeschichte sich langsamer verändert als die Gestalten, die über ihn hinwandeln, so wohnt auch dem Schauplatz des mittelalterlich-christlichen Weihnachtsspieles mehr Dauer inne als den Gedanken und Handlungen der kleinen hölzernen Personen, die sich auf ihm bewegen. Und der Name ist wiederum noch konservativer als der Schauplatz. „Krippel“ heißt dieser noch heute in Tirol, Nieder- und Oberösterreich, Salzburg und Bayern; aber was ist aus dem Kripplein geworden! In drei Terrassen türmt sich eine ganze weite Gegend auf. Auf der untersten Stufe dehnt sich eine Wiesenlandschaft. In keckem Sturze fällt das gläserne Wasser flimmernd nieder über Felsen aus Baumrinde, treibt eine klappernde Mühle und windet sich als frischer Spiegelbach durch die grüne Flur. An seinen Ufern weiden und liegen kauend friedliche Lämmer. Das frische Gras aus grüner, feingeschnittener Wolle scheint ihnen wohl zu behagen. In der Mitte der Gegend ein Felsen, in dem Felsen eine Grotte und in der Grotte noch immer das alte Kripplein mit dem Jesuskind. Dabei die Eltern und die Tiere, darüber der Glori-Engel in silbernen Wolken mit dem Spruchband: Gloria in excelsis Deo – Ehre sei Gott in der Höhe. Auf steilen Pfaden und Steigen eilen Hirten und Hirtinnen mit Geschenken zu der Grotte hernieder. Das ist noch das alte Bild des 16. und 17. Jahrhunderts. Aber rings herum ist so manches anders geworden.

Auf der zweiten Stufe ragt wohl auch in der Mitte ein Felsenthor bestreut mit Schneckenhäuslein und Frauenglas, aber rechts und links ist die Gegend dem Menschen noch in anderer Weise dienstbar geworden als auf der Flur da drunten. Da stehen zierliche Häuschen, in jedem wohnt ein Handwerker und sitzt ober steht bei seinen Werkzeugen an der Arbeit. Da hämmert der Schmied, da hobelt der Schreiner, da läßt der Müller die Mühle klappern und windet die Säcke auf, da behaut der Zimmermann den Balken, da rührt der Drescher den Flegel, da schnurrt der Spinnerin das Spinnrad, da nagelt der Schuster und flickt der Schneider.

Auf der obersten Stufe ein drittes Bild. Ein freundliches Städtchen mit seinem Marktplatz liegt vor den Augen. Von drei Seiten ist der Markt von stattlichen Gebäuden umschlossen. Rechts steht das Kaffeehaus, daran schließt sich das Mautamt, daneben das Stadtthor und unweit von ihm die schöne zweitürmige Kirche, daneben im Hintergrunde das Rathaus, an das sich auf der linken Seite des Platzes das Schulhaus, ein zweites altertümliches Thor und das einladende Wirtshaus zur „Sonne“ anschließen. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_827.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2023)