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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Kinder nennen die Stadt Bethlehem, für sie ist sie Bethlehem, und wenn sie von Bethlehem träumen, dann tritt es ihnen so vor Augen. Der Name ist geblieben, aber weiter auch nichts.

Das Glöcklein klingt, das Gekreisch des kleinen Publikums verstummt, und es spitzen sich die Ohren.

Von ferne her klingt erst leise, dann lauter und lauter der Chor der Weihnachtsengel mit seinem „Gloria! Gloria!“ Da wacht die Zenzerl, das muntere Hirtenmädel, auf, die unten am Bache geschlafen, und singt ihr Liedchen. Sie weckt die Genossen, es entspinnt sich ein Wechselgesang, und die Hirten gehen zur Krippe und bringen dem Kinde ihre Gaben dar. Damit ist der alten Weihnachtssage genug geschehen. Der Hirt schmettert ein Stück „auf der Blas’n“ und dieses Stück weckt das profane Leben. Allenthalben regt sichs auf der mittleren Etage. Singend schwingen die Drescher in der Hütte ihre Flegel, die Schmiede hämmern, die Schreiner hobeln, die Zimmerleute hauen auf die Balken los, in der Spinnstube schnurren die Rädchen und spinnen die Mädchen. Der Schuster gesteht seine heimlichen Schwächen ein:

„I bi der Schuasta Nazl
Dö Arwat is’ mein Greu’l;
I öffat liabar a Bradl
Und schmierat ma mein Mäul.“

In der Mitte steigt aus Schachtestiefe ein Bergknappe mit einem Lichtlein und klagt über die nutzlose Plage in der Tiefe. Da steigt in rötlichem Schein ein Berggeist auf, der Knappe sinkt auf die Knie, der Berggeist spricht ihm Mut zu und führt ihn in den Berg, um ihm reiche Metalladern zu zeigen.

Da steht die Mühle still, die bisher klapperte. Mit der Zipfelmütze guckt der Müller aus dem Fenster, horcht und schimpft darüber, daß der Müllerbub’ eingeschlafen sei. Dann macht er sich auf, kommt herunter und öffnet das Thürchen; da liegt der Faulenzer auf der Bank und schnarcht. Ungeduldig zerrt der Müller an dem Hansl herum; der Bub’ will nicht aufwachen. Eine tüchtige Ohrfeige – bei deren Klatschen sich die kleinen Mädchen im Zuschauerraum nach der Backe fassen – bringt endlich das Wunder fertig. Der Müller entfernt sich voll Befriedigung, und die Mühle klappert wieder.

Weihnachtsspiel im Rathaussaal: Der Engel weckt die Hirten.

Und nun welch Leben auch droben in Bethlehem auf dem Berge. Am Ende der Stadt steht ein hoher Baum. Diesem nahen sich zwei Buben – die „Baumkraxler“. Der eine klettert empor und singt nach der Weise ‚z’ Lauterbach hab’ i mein Strumpf verlor’n‘:

„Sitzt a kloans Vögel au’m Tanabam,
Thuat nix als singa und schrein.“

Kaum ist der Baumkraxler droben, da purzelt er kopfüber herunter und verzieht sich heulend mit seinem Freunde.

Eine immer größere Fülle von Gestalten erscheint, der Bärentreiber mit Freund Braun und Publikum, der Salamimann und der Uhrenhändler aus dem Schwarzwald, die Milchfrau, die sich mit dem Zolleinnehmer zankt, der Postillon und die Kutsche, die dem Sonnenwirt einen Gast bringt. Der Rastelbinder (Pfannenflicker) ist der eigentliche Randalierer. Ueberall fängt er Zank an, und im Kaffeehaus bekommt er endlich Arbeit. Er hämmert und rasselt. Da gerät er in Streit mit der Kaffeehauswirtin. Er will gar zu viel haben, und sie will gar zu wenig geben. Als sie den Rücken wendet, steckt er das Haus an und entflieht. Das Kaffeehaus brennt lichterloh. Die Kindergesichter röten sich und bekommen einen ängstlichen Zug. Aber die Feuerwehr von Bethlehem ist ausgezeichnet organisiert. Im Nu läutet es Sturm von beiden Kirchtürmen. Zwei Essenkehrer nahen mit der Spritze, und das Feuer, dessen Raum sorgfältig durch Eisenblech begrenzt ist, wird bewältigt. Als aber der eine Essenkehrer aus dem Rauchfang in eine auf dem Herde stehende Milchschüssel patscht, beginnt die Hausfrau zu schimpfen. Er antwortet. Sie ergreift einen weißen Besen, er faßt seinen schwarzen. So geht’s auf die Straße heraus, hier setzt es wechselseitig färbende Hiebe, bis die beiden Kämpfer, der schwarze Mann und die Walküre, noch immer erbittert dreinschlagend, im nächsten Thor verschwinden.

Inzwischen hat die Polizei den Rastelbinder gefangen und aufs Mautamt gebracht. Rasch wird er verhört und abgeurteilt, und die Strafe folgt auf dem Fuße. Im Strafgesetzbuch zu Bethlehem stehen auf derlei Dingen einfach Fünfundzwanzig auf die Rückseite; der Polizist hat sie auszuzahlen. Während der Rastelbinder heult und schreit, saust der strafende Arm der Gerechtigkeit die vorgeschriebene Anzahl Male auf ihn nieder, und das kleine Publikum mit den wenig mitleidigen Herzen zählt gewissenhaft die Fünfundzwanzig nach. Ehrfurcht vor Gerechtigkeit und Gericht beseelt die kleinen Gewissen.

Es kann wohl die Frage sein, ob eine andere Weihnachtsaufführung diesen tiroler und oberösterreicher Dorfkindern denselben Genuß zu bieten vermöchte. Was sie dort auf der wunderbaren dreiteiligen Bühne sehen, das ist ihrer Welt entnommen und greift ihnen darum ans Herz. Kein Wunderland öffnet sich ihren erstaunten Blicken; aber aus der Wirklichkeit auf die kleine saubere Landschaft mit ihrer schimmernden Helle übertragen, scheinen all diese Züge aus dem Leben doch einer anderen Welt anzugehören.

Damit sind wir der Gegenwart bereits sehr nahe gekommen, und wenn wir den Blick zurücklenken auf das moderne Weihnachtsspiel der Großstädte, von dem wir ausgingen, seien es nun die „Sieben Zwerge“ oder „Hänsel und Gretel“, da tritt uns die innere Verwandtschaft des Alten und Neuen deutlich entgegen. Auf der Luxusbühne der Weihnachtstage heißen der Schuster Nazl und der Rastelbinder „der faule Königssohn“ und „Pechmarie“, aber der Grundgedanke des Weihnachtsmärchenspieles ist derselbe wie der des halbverschollenen „Krüppels“. Dieselbe naive Kindermoral von Artigsein und Lohn, Unartigsein und Strafe herrscht in ihm, und sie beide sind Denkmale des unbewußten Verständnisses der Großen für die künstlerischen Bedürfnisse der Kleinen, das den germanischen Stämmen erst in den letzten drei Jahrhunderten aufgegangen ist.

In jüngster Zeit hat der tiroler Dichter Rudolf Greinz ein „Krippenspiel von der glorreichen Geburt unseres Heilands“ im alten Sinn neu geschaffen, welches von der Bühne des Münchener Gärtnertheaters aus, wo es fortwährend unter großem Andrang gegeben wird, seinen Umzug durch Deutschland wohl bald halten dürfte. In sehr glücklichem Gegensatz wechseln darin die weihevollen Scenen: Verkündigung, Geburt, Anbetung des Heilandes u. s. f. mit allerhand drolligen Volksbildern, wo Dialekt geredet wird und namhafte Anachronismen niemand stören. Die Musik dazu rührt von dem bekannten Komponisten Zenger her, sie giebt einen vortrefflichen Rahmen für die ernsten sowohl als für die heiteren Scenen dieses auf die alte deutsche Anschauung zurückgreifenden Krippenspiels.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_828.jpg&oldid=- (Version vom 23.7.2023)