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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

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Die falschen Weihnachtsbäume.

Weihnachtsgeschichte von Charlotte Niese. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Auf unserer kleinen, in der Ostsee gelegenen Heimatinsel gab es wenig Bäume. So wenig, daß das Brennholz von außerhalb geholt werden mußte und daß viele der Inselbewohner niemals einen Wald gesehen hatten. Auch die Tannenbäume waren ein seltener Artikel, was uns als Kinder immer sehr aufregte. Denn wenn es gegen die Weihnachtszeit ging, tauchten die Zweifel stets wieder auf, ob wir wohl einen wirklichen oder einen falschen Tannenbaum am Heiligabend bekämen. Einen wirklichen Tannenbaum, der im Wald gewachsen war und in dessen Zweigen die Vögel gesungen hatten, oder einen falschen, der in Meister Ahrens’ Werkstatt das Licht der Welt erblickt hatte.

Meister Ahrens war unser Tischler. Er sah alt aus und hatte einen sehr kahlen Kopf, aber wir mochten ihn gern leiden, besonders, wenn er nicht immer von seinem guten Herzen sprach. Das langweilte uns, weil wir es doch eigentlich für selbstverständlich hielten, daß man ein gutes Herz haben müsse.

Ahrens kam oft zu uns. In unserer Kinderstube ging alle Augenblicke etwas auseinander, was eigentlich zusammengehörte, und Meister Ahrens erschien dann mit seinem Leimtopf, sagte, er hätte ein gutes Herz, und klebte alles wieder zusammen. Wir halfen ihm natürlich und drängten uns um die Ehre, in seinem klebrigen Topf dreimal herumrühren zu dürfen; aber seine Tannenbäume mochten wir nicht leiden. Das kam wahrscheinlich daher, weil wir sie schon so lange vorher sahen. Schon im Frühjahr arbeitete Ahrens an langen weißen Stöcken, in die er Löcher bohrte; im August und September malte er diese Stöcke mit grasgrüner Oelfarbe an und trocknete sie vor seiner Hausthür. Später sahen wir sie zusammengebunden in seiner Werkstatt liegen, bis der Dezember ins Land zog. Dann verschaffte er sich Tannenzweige, steckte diese in die Löcher der grünen Stöcke und betrieb einen schwunghaften Handel mit Tannenbäumen. Auch uns bot er immer von seinem Fabrikat an, aber obgleich wir nicht leugnen konnten, daß seine Bäume schließlich sehr nett aussahen, so verhielten wir uns meistens ablehnend. „Sie sind so billig!“ bemerkte Ahrens eines Tages zu uns, als wir ihn einer Bestellung wegen in seiner Werkstatt besuchten und er gerade einen grünen Stock etwas nachmalte.

„Wir wollen sie doch nicht!“ erwiderte mein Bruder Jürgen, der in seinen Aussprüchen oft sehr bestimmt war. „Ich mag keinen falschen Tannenbaum!“

„Falsch! Du lieber Gott, was ’n Wort!“ Ahrens sah beleidigt aus. „Da is nich die geringste Falschheit bei! Meine Tannenbäumens sind feiner as die natürlichen, kann ich Dich sagen, mein Junge! An die natürlichen is oft Smutz und Erde, und bei mich is bloß die reine Oelfarbe!“

„Wo bekommst Du eigentlich die Tannenzweige her?“ fragten wir, und der alte Tischler sah sehr wichtig aus.

„Aus ’n Wald, aus ’n richtigen Tannwald, wo die Vögelns singen und wo so viel Bäumens stehen, daß man mannichmal kein Luft kriegen kann!“

„Wo liegt der Wald und wer holt Dir die Tannenzweige?“

Wir waren dem Tischler doch näher gerückt und sahen ihn gespannt an; er aber zuckte die Achseln „Ja, das möcht Ihr wohl wissen! Das sag’ ich abersten nich – ne, das sag’ ich nich!“

Auf diese Art umgab Meister Ahrens seine Bäume mit dem Nimbus des Geheimnisvollen und dadurch gewannen sie plötzlich in unseren Augen.

Es war bereits ziemlich nahe vor Weihnachten und wir sprachen eigentlich von nichts anderem als von dem bevorstehenden Feste. Endlos lange Wunschzettel waren geschrieben; hin und wieder wurde eine Thräne über eine völlig mißglückte Weihnachtsarbeit vergossen, oder wir schmiedeten Pläne, was wir noch verschenken wollten. Manchmal ging die Zeit entsetzlich langsam und manchmal unheimlich schnell dahin und unsere Lehrer beklagten sich über unsere Zerstreutheit.

Es war an einem Morgen im Dezember, daß ich zu Meister Ahrens geschickt wurde, um ihn samt seinem Leimtopf zu uns einzuladen. Unsere Kinderstubeneinrichtung hatte durch eine längere lebhafte Unterhaltung der älteren Brüder stark gelitten und Ahrens sollte gleich kommen. Vergnügt polterte ich die enge Treppe zu seiner Werkstatt hinauf, konnte aber nicht bis auf die letzte Stufe kommen, weil dort ein Kind stand, auf das der alte Tischler eifrig einsprach.

„Ich muß die Zweigens haben und Vater muß herüber und sie holen!“

„Vater is bang!“ lautete die schüchterne Erwiderung.

„I, was sollt Vater woll bang sein; er muß los – sonsten klag’ ich ihm ein, wo er mich doch Geld schuldig is! Ohne die Zweigens kann ich ja nix machen und das Geschäft mit die Bäumens muß anfangen! Nu geh Du man und laß Vater man auch gehen!“

Das Kind, es war ein ziemlich großes Mädchen, glitt an mir vorüber und ich konnte jetzt in die Werkstatt treten und meine Bestellung ausrichten. Aber Meister Ahrens hörte kaum auf mich. Er war sehr schlechter Laune und betrachtete seufzend seinen Haufen grüner Stöcke, der friedlich in einer Ecke lag.

„Kannst Du keine Zweige aus dem großen Wald kriegen?“ fragte ich neugierig. Er aber sah mich strenge an.

„Frag nich so dumm! Ich kann allens, was ich will, und meine Tannenbäumens sind besser als die natürlichen!“

Als ich wieder nach draußen kam, da saß dasselbe Mädchen, das vorhin mit Ahrens gesprochen hatte, auf der Thürschwelle. Sie weinte nicht, aber sie sah aus, als wenn sie wohl Lust dazu hätte, und ich setzte mich neben sie und betrachtete sie schweigend. Sie war sehr ärmlich, doch ziemlich sauber gekleidet, nur ihr dickes blondes Haar hing unordentlich um ihren Kopf. An diesem Haar erkannte ich sie und daher nickte ich ihr freundlich zu.

„Du hast mir neulich mein Lesebuch nachgebracht, als ich aus der Stunde kam, weißt Du noch? Ich hatte es auf dem Wege verloren!“

Sie nickte jetzt auf und ihre Augen blickten weniger trübe.

„Das war so ’n feines Buch,“ sagte sie, „mit Bildern ein, – so ’n feines Buch!“

„Hast Du kein Lesebuch?“ erkundigte ich mich, während ich mit einiger Beschämung daran dachte, daß ich dieses Buch schon zweimal hinter einen Schrank geworfen hatte; nur, um es nie wieder zu sehen. Leider war es immer wieder gefunden worden.

Sie schüttelte den Kopf. „Ne – ich hab’ nix, gar nix!“

„Was wünschest Du Dir denn zu Weihnachten?“

„Ich?“ das Mädchen sah überrascht auf. Dann lachte sie. „Was sollt’ ich mich woll wünschen; ich krieg’ doch nix!“

„Du bekommst gar nichts?“

Unwillkürlich rückte ich der Sprecherin näher. „Bist Du dann am Weihnachten nicht furchtbar traurig?“

„Ne“ – sie lachte wieder. „Was sollt’ ich woll traurig sein, wo ich den ganzen Abend rumlauf und in all die Fensters guck’ und all die Weihnachtsbäumens zu sehen krieg’! Männichmal krieg’ ich auch noch ein Stück Brot mit Rosinens geschenkt!“

„Weihnachtsabend darf man eigentlich nicht ausgehen!“ sagte ich. „Da muß man zu Hause bei seinen Eltern bleiben!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_831.jpg&oldid=- (Version vom 22.7.2023)