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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

und daneben knieend die Aerzte, indes ihn selbst der Freund fortzog. Er hatte das Haupt umgewandt und im stolpernden Vorwärtsschreiten zurückgesehen auf das, was nun immer, immer vor seinen Augen stehen würde.

Ein Zucken ging durch seine Glieder. Magda fuhr zurück.

Sie sah ihn an. Ihre Blicke bohrten sich ineinander.

Und sie begriff, daß irgend etwas Furchtbares geschehen war. Ihre Arme wollten ihn wieder umfassen, aber, indem sie niedersank, glitten auch ihre Hände an seiner Gestalt herab. Sie umschlang seine Kniee.

Erschüttert und gequält beugte er sich herab und hob sie auf.

„Was ist geschehen, was ist geschehen!?“ stammelte sie.

Hortense erhob sich. Sie hatte keine von Renés Mienen verloren.

„Magda!“ sagte sie leise mahnend.

„O Gott,“ flüsterte Magda, sich an ihn drängend, „ich soll nichts fragen – ich soll thun, als wisse ich nicht – wie kann ich!“

„Liebe Magda,“ sprach Réne mühsam, seine Stimme klang heiser, „ich danke Dir aus tiefster Seele, daß ich Dich hier fand. Ich fühle, Du liebst mich noch. Aber nun laß mir meine Einsamkeit, deren ich so sehr bedarf.“

„Ich soll Dich verlassen?“ rief sie mit schmerzlichem Schreck. „Ich sehe, daß Du leidest, ich soll nicht bei Dir bleiben? Soll Dich nicht trösten dürfen?“

„Mich kann niemand und nichts trösten,“ sagte er fest, „ich muß mit mir allein fertig werden.“

„Du hast ihn erschossen!“ schrie sie auf und es war, als wollte sie in erwachendem Grauen vor ihm zurückweichen.

Renés fahles Gesicht verzerrte sich schmerzlich. Welche Qual! Welche Marter! Das eigene Leid verschärfte sich ihm zehnfach, weil er sah, wie Magda litt.

Er sah flehend auf Hortense.

„Liebes Kind,“ sagte Hortense sanft, „Du thust ihm weh.“

„Sage mir, was ist mit Wallwitz!“ flehte Magda, die nichts anderes denken und hören konnte.

Renés Mienen wurden fremd und verschlossen.

„Ich weiß nichts von Herrn von Wallwitz,“ sagte er kalt.

„Komm, Magda,“ bat Hortense, „wir wollen ihn lassen. Du hast ihn gesehen – das war Dein Wunsch. Du wolltest ihm zeigen, daß Du ihn liebst, Du hast es gethan. Nun komm!“

Und zu René gewandt, setzte sie hinzu:

„Ich bin eigenmächtig gewesen, lieber Freund, ich habe Magda vorhin Ihren Brief gegeben. Es muß viel Gutes und Schönes darin gestanden haben, denn ihr Gesicht strahlte. An das wird sie sich nun erinnern und vernünftig sein.“

Er nahm zärtlich Magdas Hand.

„Ich bat Dich auch, stark zu sein,“ sagte er in inniger Bitte.

„Das will ich, indem ich Dir helfe, Dein Leid zu tragen!“ rief sie. „Es ist mein Recht! Mein Platz ist bei Dir, wenn Du leidest!“ sagte sie noch einmal. Es klang beinahe wie eine Warnung oder Drohung.

„Ich muß allein sein,“ sprach er entgegen.

Sie schwieg. Aber er sah es wohl in ihrem Gesicht, daß sie tödlichen Schmerz litt.

Er umfing sie noch einmal und küßte sie. Sie ließ es geschehen.

„So komm, Hortense,“ sprach sie dann. Ihr Ton war kalt.

Ihr Gebahren zerriß ihm das Herz! Er verstand vollkommen, daß sie litt, weil er sie von sich wies, daß ihre Seele sich in Trotz und Bitterkeit aufbäumte, daß der Rückschlag für sie zu jäh war.

Nach Stunden der Todesangst sollte sie nicht den Jubel auskosten, ihn wieder zu haben!

Aber er konnte nicht anders.

„Magda, liebe Magda,“ flehte er, „vergib mir!“

„Ich soll immer nur vergeben und wieder vergeben,“ dachte sie erbittert.

Ihr schien, als ob alles, was sie gelitten hatte durch ihn, nichts sei gegen den demütigenden Schmerz, daß er sie in dieser Stunde von sich wies, wo sie es als ihr heiliges Amt betrachtete, ihn zu trösten, mit ihm zu leiden und alles mit ihm zu tragen, selbst das Bewußtsein, einen Menschen getötet zu haben. Sie war bereit gewesen, alles mit auf sich zu nehmen. Und er bedurfte ihrer gar nicht!

„Lebe wohl,“ sagte sie und vermied seinen Blick.

Hortense drückte ihm fest die Hand und sah ihm warm und tröstlich in die Augen.

Draußen im Wagen schwieg Magda mit zusammengepreßten Lippen.

„Du bist feindlich – auch gegen mich?“ fragte die mütterliche Freundin leise.

Nun brach Magda aus: „Wenn so seine Liebe ist, was ist sie mir dann? Wenn er mich wirklich liebte, hätte er mich nicht von sich gelassen! Und nicht einmal Vertrauen will er mir geben.“

„Wie kann er Dir Vertrauen geben in einer Angelegenheit, über die er wahrscheinlich sein Ehrenwort gab, zu schweigen? Nur ein Zugeständnis heißt schon, es brechen.“

„Auch ohne Aussprache, in schweigendem Verstehen, hätte meine Liebe ihm Wohlthat sein müssen,“ entgegnete Magda trotzig.

„Er ist eben ein Mann, der keine Wohlthaten erträgt. Er ist einer von denen, die aus eigener Kraft alles erreichen müssen, auch die Ueberwindung einer großen Erschütterung.“

„Dann braucht er auch keine Gefährtin für sein Leben,“ rief sie aus.

Ihre Wunden brannten zu schmerzhaft, als daß sie sich nicht hätte aufbäumen sollen. Hortense sah wohl, daß heute keine Einsicht, keine Gerechtigkeit mehr bei Magda zu finden sei.

„Da ist mein Haus. Laß mich aussteigen. Ich danke Dir, Hortense. Sei mir auch nicht böse.“

Magda stieß das alles kurz heraus und selbst die Schlußbitte klang unfreundlich. Sie sah in diesem Augenblick in Hortense nur Renés Verteidigerin und das beleidigte sie, die sich in ihren edelsten, selbstlosesten Empfindungen, in ihrer aufopfernden Liebe verletzt sah.

Hortense verabredete kein Wiedersehen für diesen Tag. Sie hoffte, daß Magda in der ungestörten Einsamkeit am ehesten ihr Gleichgewicht wiederfinden würde und daß dies nur in dem wiedergewonnenen Vertrauen und der Liebe zu René wurzeln könne.

Aber Magda dachte nicht daran, sich in thatenloser Stille zu verhalten. Das Schicksal des jungen Wallwitz ließ ihr keine Ruhe. Sie mußte wissen, was mit ihm war, ob er lebe oder tot sei. Sie mußte erfahren, ob ein Gerücht über das Duell umlief, ob demnach für René noch die Gefahr einer späteren Festungsstrafe zu fürchten war.

Indem sie sich mit verbitterten und trotzigen Gedanken einredete, sie wolle sich ganz und für immer von René loslösen, bebte sie doch davor, daß ihn zu all den Seelenqualen, die er duldete, noch die äußeren, peinlichen Folgen treffen könnten. Eine lange Festungsstrafe mußte ihn so störend aus seinem Beruf reißen, daß sie auf seine ganze Laufbahn, wenigstens als Dirigent, hindernd wirken konnte. Und hier in Leopoldsburg war seines Bleibens keine Stunde mehr, wenn der Herzog davon erfuhr. Mochte der Herzog innerlich dem von ihm so geschätzten Mann hundert Milderungsgründe zugestehen, vor der Welt durfte er keine andere, als eine unerbittliche Haltung einnehmen.

Sie besorgte alle ihre häuslichen Geschäfte mit einer gewissen abweisenden Hast, als wollte sie mit jeder Bewegung den Dingen zeigen, daß sie ihr Störung und Last seien. Und es gab heute so unendlich viel zu thun. Der gestrige Tag hatte sie ja schon von allen Pflichten fern gehalten.

Es wurde Nachmittag, ehe sie zu Sibylle gehen konnte. Sie lief fast, und die Bekannten, die ihr begegneten, dachten: „wie sieht denn Magda Ruhland aus!“

In Sibyllens Wohnung fragte Magda nach der kleinen Freundin und Schülerin.

Das Dienstmädchen, welches Magda hier oft ein- und ausgehen gesehen, meldete ihr mit einem vertraulichen und geheimnisvollen Ton, daß Fräulein Sibylle nicht daheim sei.

„Melden Sie mich bei der gnädigen Frau,“ bat Magda, die in diesem Augenblicke sich gar nicht mehr der feindlichen Stimmung der Frau von Lenzow gegen sie erinnerte.

„Ich darf heute niemand melden,“ sagte das Mädchen. Ihre Miene war wieder so herausfordernd bedeutungsvoll, daß Magda sah, sie wolle gefragt sein. Und da in Magda die verzehrendste Ungeduld brannte, fragte sie denn auch:

„Es ist doch nichts vorgefallen?“

„Ach, ich glaube doch, gnädiges Fräulein! Ich bin schon fünf Jahr im Haus. Da kennt man seine Herrschaft, nicht? Zu andern würd’ ich nichts sagen, aber da unser Fräulein Sibylle so sehr viel von Ihnen hält … ich glaube, unser Fräulein sollte sich verloben, den Namen will ich lieber nicht sagen. Aber er kam diese letzten Tage so viel her, da merkt man ’was. Na und nun ist ’was mit ihm passiert – ich glaube, ’was Schlimmes. Sonntag wollten wir großes Dinner haben und ich hab’ alles abbestellen müssen.“

Magda stand stumm.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_846.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2022)