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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Nach einer Weile wurde der junge Mann schweigsamer – seine Gefährtin war auch nicht zu unterhaltend gewesen, sondern hatte, wie unter dem Druck einer unsicheren Befangenheit, meist nur einfach auf seine Fragen geantwortet. Nachdem er ihr seinerseits erzählt, wie er draußen in China sein Glück gemacht und vom Lehrling des großen Handelshauses in Peking sich zum ersten Beamten desselben aufgeschwungen habe, begann er plötzlich mit dem ihm eignen Freimut: „Fräulein Anna, nun seien Sie mir nicht böse, wenn ich zehn Minuten lang ein bißchen schlafe! Ich bin die ganze Nacht hindurch gereist und möchte nicht gar zu verschlafen in meiner Vaterstadt ankommen, sondern die Augen weit offen haben fürs Wiedersehen!“

Und er nickte ihr freundlich zu, zog sich dann den Hut tief in die Stirn und schlief ohne weitere Komplimente ein, während das Mädchen ihm gegenüber saß und ihn still betrachtete.

Ihre Gedanken flogen dabei weit in die Vergangenheit zurück – in die Kindheit und erste Jugend – die weit – sie glaubte erst seit den letzten Stunden zu fühlen, wie weit! – hinter ihr lag.

Dieser Karl Thiessen, der jetzt so unbefangen während ihrer Unterhaltung nach dem ersten Wiedersehen einschlief – er war ja das Ideal ihrer Mädchenjahre gewesen, schon, da er noch als Schüler mit der bunten Mütze umherlief! Und sie allein wußte, was für bittere Thränen sie ihm nachgeweint hatte, als das Schiff in der Ferne verschwand, das ihn einer neuen – ach so fernen Heimat entgegcnführte!

Sie allein wußte, mit was für goldenen Träumen sie die grauen Jahre inzwischen ausgeschmückt hatte! Aus kleinen, unbefangenen Huldigungen, wie ein achtzehnjähriger Junge sie einem sechzehnjährigen Nachbarskind wohl darbringt, hatte sie sich ein herrliches Luftschloß erbaut. Und heut’ und diesen Tag, jetzt im Augenblick sogar, trug sie das kleine blaue Notizbuch mit der sinnigen Aufschrift Notes und einem Goldschnörkcl noch bei sich, das er ihr einmal auf einem Jahrmarkt gekauft hatte.

Uud als sie dann – die arme, kleine Waise, von der geschlossenen Thür des Elternhauses fort in die Fremde ging, um ein schweres Brot bei anderen Leuten zu verdienen – als Lehrerin – da hatte sie unentwegt, wie ein reines Mädchenherz das thun kann, an ihrem Luftschloß weiter gebaut und den lieben Gott alle Abende gebeten, er möge diesem Luftschloß Wirklichkeit und Boden verleihen. Und durch alle diese Jahre, durch das langsame, langsame Hinschwinden der ersten Jugend und der ersten Hoffnungen, ohne ein Zeichen von außen her, ohne Grund und Ursache, wenn man es so will, hatte ihr einfacher, frommer Sinn an dem Wort festgehalten: „Wenn es der liebe Gott will, kriegst du ihn doch noch!“

Und nun hatte sie ihn wieder gesehen! Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf, als sie in den Wartesaal kam. Wie hübsch, wie stattlich, wie freundlich war er geworden! Und er hatte sie nicht wieder erkannt und schlief in der ersten halben Stunde ein, nachdem er mit ihr zusammen gewesen war!

Die Fahrt nach der Heimat, die Karl Thiessen so tief, so traumlos und unbefangen verschlief, war für das arme Mädchen ein rechtes Grabgeleit für alle Jugendträume, für alle thörichten Hoffnungen; aber sie blieb tapfer und getrost, und eine fast erstickte, aber immer wieder hörbare Stimme in ihrem Herzen sagte trotz alledem und alledem: „Wenn es der liebe Gott will, kriegst du ihn doch noch!“

Der Zug fuhr in die Bahnhofshalle des Städtchens ein, wo die beiden Jugendgespielen zu Hause waren.

Karl Thiessen wachte auf, streckte sich und nickte seinem Gegenüber gemütlich zu. „Da wären wir! Und Eisenbahn ist ja jetzt auch hier!“

Sie standen sich nun gegenüber auf dem Perron, und Anna Braun streckte ihm die Hand hin.

„Adieu auch, Herr Thiessen – bleiben Sie lange hier?“

„Ein halbes Jahr gilt mein Retourbillet und mein Urlaub,“ sagte er, „und Sie, Fräulein Anna?“

„Ich weiß es noch nicht gewiß!“ antwortete sie stockend, „ich will mich nach einer Stelle als Erzieherin umsehen – das kann rasch und kann auch langsam gehen!“

„O, aber wir sehen uns noch,“ sagte er gemütlich und nahm den Hut ab, „gehen Sie nicht auch noch oft zur alten Tante Verwalterin? Das wird mein erster Besuch sein! Wie hübsch, daß die alte, gute Seele noch lebt!“

Damit nickte er ihr nochmals freundlich zu und ging nach der Stadt, ohne den Kopf zu wenden, während sie stand und ihm nachsah. „Also so ist das Wiedersehen geworden!“ sagte sie leise vor sich hin – und dann trat auch sie den Heimweg an.


Wenige Tage nach diesem Reiseerlebnis war es, da wir die alte Frau Verwalterin in ihrem Gärtchen belauscht haben, und dort wollen wir sie jetzt wieder aufsuchen, um zu erleben, wie ihr Neffe und Liebling Karl Thiessen nach alter Jungensmanier mit einem großen Satz über den niedrigen Zaun springt, die alte Tante herzhaft umarmt und dreimal mit sich im Kreise herumdreht, ehe er sie zu Worte kommen läßt.

„Du alte Gute – Du gute Alte – siehst Du, da bin ich! Ein schlechter Schilling kommt immer wieder nach Hause!“

„Aber Du bist kein schlechter Schilling und warst auch nie einer!“ sagte die Tante Verwalterin mit nicht allzu verhohlenem Stolz auf den stattlichen Neffen, „wenn Du auch noch gerade so ein Wildfang bist wie vor zehn Jahren, wie es scheint. Aber nun komm mal gleich hinein und iß und trink etwas bei der alten Tante,“ setzte sie eifrig hinzu und zog ihn mit sich nach dem kleinen Gartenpavillon, wo in dem ihm noch wohl erinnerlichen Eckschränkchen mit den Glasscheiben und den grünen Vorhängen immer, wie seit alter Zeit, für eine Flasche Malaga und ein paar erlesene Kuchenstückchen auf schönen geschliffenen Glastellerchen für unvorhergesehene Fälle gesorgt war.

„Und nun,“ sagte der junge Mann, nachdem er sein Glas geleert hatte, in dessen Inhalt er mit dem herb feurigen Weingeschmack sich ein ganzes Stück Vergangenheit in die Erinnerung trank – „nun, Tante, will ich auch Dir noch etwas sagen! Ich komme mit einer ganz besonderen Angelegenheit zu Dir und will, wie das immer meine Mode war, gleich mit der Thür ins Haus fallen! Also Tante – ich will etwas von Dir!“

Die Verwalterin rückte sich behaglich zum Zuhören zurecht und zog ihre Filetarbeit aus dem seidenen Ridicule.

„Und das wäre?“ frug sie.

„Siehst Du,“ fuhr Karl Thiessen fort, nahm sein Billet aus der Tasche und hielt es ihr vor die Augen, „dies hier ist mein Retourbillet nach China! Es gilt gerade sechs Monate – und dann kaufe ich mir noch ein einfaches Billet dazu!“

Die Tante sah ihn verständnislos an.

„Noch eins!“ wiederholte er, „denn ich will auf keinen Fall wieder allein nach China zurückgehen.“

Die Frau Verwalterin spitzte die Ohren wie ein altes Schlachtroß beim Klange der Drommeten.

„Ich will heiraten!“ schloß Karl Thiessen mit großer Energie, während die Tante wie ein in Schwung gebrachter Pagode zu seinen Worten nickte, „ich will mir eine deutsche Hausfrau mit in die Fremde nehmen! Und alles, was um eine solche Sache drum und dran hängt – Freierei, Verlobung, Aussteuer, Hochzeit – alles das muß in der Zeit besorgt werden, ehe mein Retourbillet abläuft. Und Du, Tante, Du sollst mir helfen, die Richtige zu suchen und zu finden! Du kennst alle jungen Mädchen hier in der Stadt von der Wiege an –“

„Das thue ich!“ sagte die alte Dame mit vor Unternehmungslust zitternder Stimme – sie sattelte und zäumte ihr Steckenpferdchen schon in Gedanken frisch auf.

„Und Du sollst wissen, was für eine Sorte Frau ich haben will,“ schloß Karl Thiessen seinen Vortrag. „Sie muß jung sein, sie muß hübsch sein – sie muß gut und freundlich und lustig sein – reich braucht sie nicht zu sein, aber ein Hinderungsgrund wäre es auch nicht – und sie muß sehr gut kochen können. – Und jetzt, Tante – jetzt zeig’ mal, was Du kannst!“

Und als die Frau Verwalterin an diesem Abend ihre Nachtmütze mit dem breiten getollten Strich vor dem Spiegel aufsetzte, um sich in ihrem großen geblümten Gardinenbett zur Ruhe zu legen, da sagte sie vor sich hin: „Sechs Monate! Nun, in der halben Zeit könnte ich ihm drei Frauen verschaffen – geschweige denn eine!“ Und sie schlief ein, während ein ganzer Kranz von hübschen, lustigen, reichen jungen Fräulein vor ihren Augen herumtanzte und sich drehte.

Aber daß ganz in der Ferne ein blasses, stilles, kleines Mädchen stand und leise sagte: „Wenn es der liebe Gott will, kriege ich ihn doch noch!“ – das hörte die Frau Verwalterin nicht mehr, denn da schlief sie schon ganz fest. (Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_855.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)