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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Renés Dasein hinweglöschte. – Sibylle ging im dunklen Raum auf und ab. Es lag etwas Feierliches in ihren Schritten.

„Ich habe einen Entschluß gefaßt, Magda,“ sagte sie; „wenn Walfried sterben muß, laß ich mich vorher mit ihm trauen, dann will ich ihn als seine Witwe ewig betrauern. Denn ich werde mich niemals trösten und nie einen andern lieben. Mein Leben sei seinem Andenken geweiht. O Gott und ich bin erst achtzehn Jahr!“

Dies Gemisch von echtem Gefühl und einer unbewußten Selbstgefälligkeit, die sich vom eigenen harten Schicksal rühren läßt, zeigte Magda, wie anders ihre eigenen Schmerzen geartet waren als die Sibyllens. Aber sie wurde dadurch nicht in ihrem liebevollen Mitleid beeinflußt. Sie sah es als ihre Aufgabe an, Sibyllen beizustehen, um wenigstens an ihrem Teil zu heilen, wo René Wunden geschlagen.

„Von dieser Idee wirst Du zurückkommen,“ sagte sie herzlich, „es würde eine Handlung sein, die Dich und ihn marterte. Und wenn er sterben sollte – ist das innere Band nicht ebenso unzerreißbar?“

Aber Sybille war gesonnen, den ganzen Kelch auszutrinken und in ihrem Unglück romantisch zu schwelgen. Weinend sprach sie:

„Die Welt wußte ja noch nicht, daß ich seine Braut war. Sie soll erfahren und sehen, wie ich ihn geliebt habe. Und Tante Sibylle, die morgen kommt und unsern Bund zustande bringen wollte, wird mir beistehen! Sie ist wegen einer unglücklichen Liebe ledig geblieben. Sie wird mit mir fühlen.“

„Deiner Eltern wegen – sei ein wenig vernünftig,“ bat Magda.

Sibylle weinte stärker. Auch das Unglück ihrer Eltern, die die einzige, hoffnungsvolle Tochter lebenslänglich elend sehen sollten, ergriff sie schwer.

„Wie kann man vernünftig sein, wenn man das Liebste, was man auf der Welt hat, sterben sicht. Ja, Du kannst es nicht begreifen, Du weißt nicht, was Liebe und was Unglück ist.“

Magda schwieg. Sie dachte gequält, daß kein Herz für die Leidfähigkeit eines anderen Herzens einen Maßstab hat. Und daß vielleicht der Gram Sibyllens nicht an die Not ihrer eigenen Seele heranreichte.

Wer hatte mehr Gründe zu weinen, wenn der Verwundete starb: Sibylle, die den Geliebten verlor, oder sie selbst, die fortan das Dasein des Ueberlebenden vergiftet wußte?

Ach, wie oft würde Sibylle sie noch mit ihren thörichten Reden verwunden! Aber sie nahm sich vor, mit dem lieben Kinde, seiner Unreife und seinem reinen treuen Herzen eine unermüdliche Geduld zu haben.

Ihr war es, als erfülle sie damit geradezu eine Pflicht gegen René. Sie würde sich mit Freuden hingeopfert haben, um nur etwas für ihn in seinem Sinn zu thun.

11.

Mit der großen Stunde verrauscht auch die große Stimmung. Schon am andern Morgen kam es Magda vor, als sei der Zustand der Todesangst in den vorhergegangenen Stunden leicht zu ertragen gewesen. Er fand doch seinen erlösenden Gipfelpunkt in dem Wiedersehen mit René. Nun lag aber die nächste Zeit vor ihr wie eine graue Oede. Sie konnte nichts thun als warten und sich fürchten.

In der „Leopoldsburger Zeitung“ las sie zwei Notizen im lokalen Teil. Beide waren in ihren Augen Lügen.

Da stand zunächst zu lesen, daß der Premierlieutenant von Wallwitz das Unglück gehabt habe, sich beim Reinigen einer Pistole, die er ungeladen glaubte, schwer zu verwunden, so schwer, daß man an seinem Wiederaufkommen fast verzweifle. Es war noch hinzugefügt, wie beliebt der tüchtige Offizier bei seiner Mannschaft sei, und daß Herr von Wallwitz dem Vernehmen nach gerade im Begriff gewesen, seine Verlobung mit einer der reizendsten jungen Damen der hiesigen Gesellschaft zu vollziehen, daß das Unglück also doppelt beklagenswert sei, da es einen Mann getroffen, der sich in den glücklichsten Lebensumständen befinde.

Die Notiz war taktlos – so konnte es scheinen. Magda fühlte heraus, daß ihre Ausführlichkeit von den Einsendern beabsichtigt war. Man gab soviel Details, um keinerlei Gerüchte aufkommen zu lassen.

Die andere Notiz betraf René. Er habe, so hieß es, zur Vollendung seines Musikdramas einen unbestimmten Urlaub genommen.

„Er ist fort,“ dachte Magda, „geflohen! Oder er wartet in einer Nachbarstadt ab, ob hier Gerüchte entstehen. Wie könnte er arbeiten! Jetzt mit dem Gefühl im Herzen!“

Schließlich war es der beste Vorwand, den er für eine Abwesenheit oder Zurückgezogenheit wählen konnte!

Sie erwartete, er werde ihr irgend ein Zeichen geben, sich ihr brieflich doch noch aussprechen, irgend ein Gefühl der Sehnsucht nach ihr äußern.

Von Hortense, die jeden Tag viele Menschen sah, hörte sie bald, daß keine Seele auf die Idee käme, Wallwitzens Verwundung könne einen geheimnisvollen Hintergrund haben oder gar mit René Flemming in Zusammenhang stehen. Ganz Leopoldsburg beschäftigte sich so sehr mit den Gerüchten über Magda und Flemming, daß es Flemmings vorübergehendes Interesse für Lilly Wallwitz ganz vergessen hatte. Auch hatte das Fräulein von Deggenburg am Duellmorgen doch erkannt, daß es Magda gewesen war, die mit Hortense zu Flemming gegangen, und vermittelst ihres Opernglases hatte sie beide Damen einen Augenblick an Flemmings Fenster gesehen.

Hortense hatte sich das mit einem besonderen Ausdruck im Gesicht angehört und nur trocken gesagt: „So – wirklich?“ aus welcher Antwort die Fragenden und Berichtenden keinen Schluß ziehen konnten.

„Laß sie nur meinen Namen zerfetzen,“ sprach Magda mit schmerzlichem Lächeln, „wenn diese Redereien ihn schützen. Was liegt an mir!“

„Ich habe schon für die beste Verteidigung gesorgt,“ tröstete Hortense, „morgen kommt die Herzogin und besucht Deinen Vater.“

Und die hohe Dame kam auch und versicherte Magda und der diensthabenden Hofdame, die sie begleitete, daß ihr die arme liebe Excellenz, als sie noch der Minister für den Unterricht, die Künste und die geistlichen Angelegenheiten des Landes waren, ein sehr treuer, lieber, unschätzbarer Mitarbeiter gewesen“.

Sie war sehr leutselig und äußerte sich, daß Magda elend aussehe und der Anregung bedürfe. Sie habe Magda eigentlich bitten wollen, ihr ein Pendant zu dem so wundervollen Christrosenstück zu malen, aber diese Bitte verschöbe sie bis zum Frühling. Hingegen lud sie Magda zum nächsten Theeabend in das Schloß und erlaubte ihr, für die bevorstehende Lotterie zum Besten einer Missionsausrüstung zwei schöne Wandteller mit Blumenmalerei zu stiften, die noch im Atelier vom Sommer her hingen, und von welchen die hohe Frau, als sie sich im Atelier umsah, bemerkte, daß sie als Lotteriegewinne sich vortrefflich eignen würden.

Magda küßte ihr dankbar und gerührt die Hand. Die Herzogin hatte sie so eigen angesehen, mit einem so menschlichen, warmen Blick, der aus einer anderen Seele zu kommen schien als all’ die langsam vorgebrachten leutseligen Tiraden.

Nachher weinte sie einige erlösende Thränen und dachte viel über das Schicksal der Herzogin nach. Das hohe Paar war gewiß nicht glücklich. Vielleicht weil es keine Kinder hatte, vielleicht weil es nicht zusammenpaßte. So waren sie auseinandergewachsen, die Herzogin hatte ihr warmes, schüchternes Fühlen verstecken gelernt, des Herzogs feurige Seele entfloh ihr.

„Vielleicht hat sie ihn nicht verstanden,“ dachte Magda. „Ob es wohl möglich ist, einen Mann ganz zu verstehen?“

Und damit war sie wieder bei René und den Rätseln angelangt, die er ihr aufgab.

Er schrieb nicht und kam nicht. War er so tief gebeugt, so ganz haltlos, daß er sich nicht vor ihr zu zeigen wagte?

Der Erfolg des hohen Besuches, den Magda erhalten, kam augenblicklich.

Johanne von dem Busche und die anderen beiden Damen meldeten sich zur Malstunde zurück, mit ihnen baten noch drei neue Schülerinnen um Aufnahme.

„Nein,“ sagte Magda, „ich kann nicht arbeiten, ich bin nicht wohl,“ und lehnte es ab.

Sie war außerstande, an Thätigkeit mit andern nur zu denken. Sogar die Pflichten ihres Hausstandes waren ihr lästig. Sie mochte am liebsten sitzen und grübeln und sinnen, wie es ihm wohl ergehe, was er thue, wie er seine Tage verbringe.

Wahrscheinlich auch in thatenlosem, qualvollem Bangen und Hoffen. Wahrscheinlich gehetzt von der fürchterlichen Angst, daß das Menschenleben, das durch ihn in Gefahr schwebte, doch noch verloren gehen werde.

Welche Veränderungen mußten mit ihm vorgegangen sein, er, der lebhafte, ungebundene Geist, geknechtet und gefesselt von dem Bewußtsein solcher That! Wie mußte er leiden!

Vielleicht ward seine Schaffenskraft im Keim gebrochen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_858.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2022)