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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Karl Thiessens Brautfahrt.

Eine Heiratsgeschichte von Hans Arnold.
(Schluß.)

Als Karl und Anna das Haus verlassen hatten, blieb er noch einen Augenblick stehen. „Fräulein Anna – es ist so herrlicher Mondschein heute abend – wollen wir nicht noch einmal miteinander um den Marktplatz gehen? Ich bringe Sie dann auf dem kleinen Umweg ebenso sicher nach Hause. In drei Wochen bin ich ja wieder fort von Deutschland – ich möchte meine alte Heimatstadt noch einmal im Vollmondschein sehen – und nicht ganz allein.“

Anna nickte nur.

Sie fühlte wohl, daß es thöricht von ihr war, sich diesem Zusammensein mit dem heimlich geliebten Jugendfreunde noch einmal auszusetzen – aber sie dachte im stillen: „Das Andenken an diese Stunde kannst du dir dann in dein ganzes, freudeloses Leben mit hinüber nehmen – das kann kein Unrecht sein!“

So gingen sie denn durch die stillen mondhellen Straßen. – Wie flüssiges Silber lag es auf den spitzigen Giebeldächern der alten Häuser – und wie flüssiges Silber schimmerte es auf dem dunkeln Wasser des Stadtgrabens. Hier und da – hoch auf dem Boden oder tief im Erdgeschoß – glimmte noch ein Licht wie ein Glühwürmchen, aus der Ferne hörte man durch die lautlose Nacht nur die abgebrochenen Töne einer Ziehharmonika, die vor irgend einer Hausthür gespielt wurde.

Die Beiden sprachen lange kein Wort – endlich sagte Karl: „Fräulein Anna – wenn Sie später einmal an mich denken – und man denkt ja an einen Jugendfreund, auch wenn er weit weg ist – dann denken Sie, daß Sie mir heut’ abend sehr wohl gethan haben. Es war alles so deutsch – das Mondlicht – und die alten Lieder – nach der Stunde werde ich oft Heimweh haben!“

Seine Stimme klang ganz unsicher, als wenn er mit Thränen zu kämpfen hätte. Anna erwiderte kein Wort; sie dachte nur immer vor sich hin: „Lieber Gott – lieber Gott – er wird nicht glücklich!“ – weiter nichts.

So gingen sie weiter, bis endlich Anna, die genau merkte, daß ihr schweigsamer Begleiter gar nicht wußte, welchen Weg er einschlug, in ihre Straße bog und vor ihrer Wohnung still stand.

„Hier bin ich zu Hause, Herr Thiessen,“ sagte sie schüchtern.

Er sah sie an wie aus dem Schlaf erwacht.

„Schon!?“ sagte er dann, „schade – schade! Nun gute Nacht, Fräulein Anna, und schönen Dank für den hübschen Spaziergang!“

Anna lächelte mühsam.

„Ich habe Sie gar nicht unterhalten,“ brachte sie endlich hervor.

„Nein – aber Sie können nicht bloß so schön singen – Sie können auch so schön schweigen – und Sie glauben nicht, wie gut das manchmal thut.“

Er preßte ihre Hand verwirrt in der seinen, daß sie fast aufgeschrieen hätte – dann blieb er stehen, bis sie im Hause verschwunden war, und trat, in mancherlei Gedanken, seinen eigenen Heimweg an.


Diesem hochgestimmten Abend folgten nüchterne Tage. Je näher die Hochzeit kam – sie sollte vierzehn Tage vor Karls Abreise gefeiert werden, damit er seiner schönen kleinen Frau noch ein wenig die großen europäischen Städte zeigen konnte – um so unruhiger wurde es im steuerrätlichen Hause – nach außen und nach innen. Karl hatte sich von Binchens Eltern ausbedungen, die Aussteuer ganz allein zu beschaffen, und das Mobiliar wurde nun schon verpackt und verladen. Karl wollte durchaus deutsche Möbel und Geräte drüben in seinem Hause haben.

Auch bei der Anschaffung und Auswahl aller dieser Dinge zeigte es sich wieder häufig, wie verschieden die Anschauung und der Geschmack des Paares war, welches so bald miteinander in die weite Welt hinausziehen und sich gegenseitig Heimat und Freunde, Verwandte und Muttersprache zu ersetzen haben sollte.

Karl wollte alles einfach, gemütlich und solid – Binchen alles zierlich, elegant und hochmodern haben. In manchen Stücken gab Karl nach – in den meisten setzte er seinen Willen durch, und so kam es, daß das verzogene Kind jetzt oft und öfter mit rotgeweinten Augen zu sehen war.

Karl befand sich in einem Taumel von Unruhe. Die Hochzeit, die Reise, der Abschied von der deutschen Heimat und den alten Beziehungen – und daneben, bei aller Glückseligkeit, der nicht ganz totzuschweigende Zweifel, wie das kleine eigensinnige, verwöhnte Mädchen sich und ihm dort drüben das Leben gestalten werde, dies alles zusammen sang und summte ihm in den Ohren und ließ ihn nicht zu Behagen kommen.

Ein paar Tage vor der Hochzeit – derenthalben die ganze Stadt mit Polterabendvorbereitungen und Kleider- und Putzangelegenheiten in mehr oder minder großer Aufregung sich befand, begegnete der glückliche Bräutigam Annchen Braun, die er seit jenem Musik- und Mondscheinabend nicht wieder gesehen hatte. Ihr eine Einladung zu seiner Hochzeit zu verschaffen, das hatte der gutmütige Karl vergeblich versucht. Steuerrats setzten sich gegen ein solches Ansinnen entschieden zur Wehr; die einfache kleine Lehrerin paßte ihnen nicht in den erlesenen Kreis, der ihres schönsten Töchterchens Ehrentag verherrlichen helfen sollte. Ja, Binchen erklärte, Anna Braun würde sich bei einer solchen Festlichkeit nur unbehaglich fühlen, da sie kein Kleid hätte, das für eine solche Gelegenheit geeignet und schicklich wäre. „Um so mehr, da Du ihre alte Liebe bist,“ setzte sie übermütig lachend hinzu; aber Karl Thiessen lachte dies Mal nicht mit, sondern sah Binchen groß an und ging davon.

Unter dem Eindruck dieser nun schon zweimal von seiner Braut gemachten Bemerkung traf er, wie gesagt, Anna Braun und trat ihr natürlich nicht ohne eine leichte Befangenheit gegenüber.

Er wollte erst mit stummem Gruß an ihr vorbei – besann sich aber dann eines Bessern und blieb stehen, indem er den Hut zog.

„Nun, Fräulein Annchen,“ begann er, „so sehe ich Sie doch noch einmal vor meiner Hochzeit und kann mir Ihren Glückwunsch ausbittcn. Werden Sie nicht“ – er stotterte verlegen und setzte dann ungeschickt hinzu: „Werden Sie nicht in die Kirche kommen und die Trauung ansehen?“

Sie schüttelte ruhig den Kopf.

„Nein, Herr Thiessen, das kann ich leider nicht,“ sagte sie dann scheinbar ganz unbefangen, „ich habe eine Stellung in Berlin angenommen und reise am Donnerstag früh – also an Ihrem Polterabendmorgen dahin ab. Es freut mich aber, Sie vorher noch zu treffen, und ich wünsche Ihnen alles – alles Gute, was man einem Menschen nur wünschen kann,“ setzte sie mit sinkender Stimme hinzu – es war doch furchtbar schwer!

Er sah an ihr vorbei in die Luft. „Ich danke – – ich danke sehr!“ erwiderte er in tiefster Verwirrung – „und wenn Sie – ich meine, Fräulein Annchen, wenn Sie auch einmal heiraten –“

Sie lächelte ihn durch aufsteigende Thränen an.

„Das wird nie geschehen,“ sagte sie dann ganz fest.

„Nun – wenn es aber doch geschieht,“ fuhr er fort, „dann wünsche ich Ihnen – nein, ich meine Ihrem Zukünftigen, daß Sie ihm jeden Abend so schöne Lieder vorsingen möchten wie damals mir – wissen Sie noch? – an dem Abend, wo der Mond so hell schien?“

„Adieu!“ sagte sie plötzlich, drehte sich auf dem Absatz um und war fort, als wenn die Erde sie eingeschluckt hätte, so daß er verblüfft dastand und um sich her sah.

Das sah er aber nicht, daß sie dicht neben ihm ins Haus gerannt war, daß sie dort hinter der Treppe stand und schluchzte, als sollte ihr das Herz in Stücken gehen – was mußte er auch vom Mondschein sprechen!


Zwei Tage vor dem Polterabend fügte es sich so, daß Karl Thiessen noch eine kleine Reise in geschäftlichen Angelegenheiten nach der Kreisstadt unternehmen mußte. Er benutzte diese kurze Abwesenheit zu den letzten Vorbereitungen – kaufte die Trauringe, nahm mit heimlichem vergnügten Lächeln das für Frau Karl Thiessen bestellte Schiffsbillet in Empfang und kehrte am Mittwoch abend zu spätester Stunde nach seiner Vaterstadt zurück, mit dem Gefühle eines Menschen, der nun auch alles besorgt hat, was sich besorgen läßt, und sich vergnügt die Hände reibt – „Nun kann es losgehen!“

Er hatte der guten Tante Verwalterin das Versprechen ablegen müssen, die letzten acht Tage vor seiner Hochzeit ihr Gast zu sein, und war infolgedessen mit Anfang der Woche zu ihr gezogen.

So ging er denn jetzt auch vom Bahnhof geradeswegs nach dem kleinen Gartenhause. Die alte Dame schlief natürlich schon

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 886. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_886.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)