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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Aber hatte sie sich so lange beherrscht, so wollte sie es auch noch bis zum Schluß thun. „Sie fahren auch nach Berlin?“ fragte sie, seine letzten Worte wiederholend „und heut’?“

„Ja, gerade heut’!“ sagte er und wies nach der offenstehenden Coupéthür, „aber wollen Sie nicht einsteigen? Wir haben ja viele Stunden Zeit, uns unsere Pläne für die Zukunft zu erzählen.“

Meine Pläne sind rasch erzählt,“ sagte sie mit etwas erkünstelter Unbefangenheit, als sie einander gegenüber im Wagen saßen und der Zug sich langsam in Bewegung setzte, „ich gehe als Erzieherin zu fünf kleinen Mädchen nach Berlin – und alles andere wird sich dann später finden.“

„Und ich,“ sagte er und zog langsam den Handschuh von der linken Hand, „ich sage auch: ,alles andere wird sich finden‘ – ich bin so ein bißchen was man herrenloses Gut nennt – da – sehen Sie einmal her!“

Und er hielt ihr seine braune Hand hin, an der statt des Verlobungsringes ein weißeres Streifchen Haut zu sehen war, welches in letzter Zeit der Ring vor dem Braunwerden geschützt hatte.

Anna wirbelte der Kopf. Sie konnte zunächst nur eins denken – nur eins, so wenig egoistisch sie sonst war: es war jetzt kein Unrecht mehr, daß sie Karl Thiessen lieb hatte; er war wieder frei – und am Ende – man konnte ja nicht wissen – Sie wagte es nicht, den Gedanken weiter auszudeuten; sie saß ganz regungslos, ganz still mit zusammengepreßten Händen da, deren Zittern sie nicht ganz zu beherrschen vermochte. So hörte sie der Geschichte zu, die Karl Thiessen ihr erzählte, und nur ab und zu entrang sich ihrer Brust ein tiefer Seufzer des Mitgefühls, der vielleicht beredter war, als Worte es hätten sein können.

Und als Karl nun seine Erzählung schloß „Na ja!“ und auch tief seufzte, da blieben die Beiden eine ganze Weile still und Anna sah unentwegt vor sich nieder, als wenn sie die größte Angst hätte, ihre Augen könnten mehr sagen, als sie ihnen erlauben wollte.

„Und nun sehen Sie einmal, Fräulein Anna,“ fuhr Karl Thiessen fort, in dem der praktische Mensch in jeder Lebenslage immer wieder zum Durchbruch kam, „nun sehen Sie ’mal, nun schwimmt die ganze schöne Aussteuer nach China. Die hübschen, gemütlichen Möbel – das Nähtischchen, die große Wanduhr – all’ die netten Sachen – und dann werde ich dazwischen sitzen und mir ausdenken, wie hübsch es hätte sein können – wenn es eben hätte sein sollen! Schade – nicht wahr?“

Sehr!“ erwiderte Anna fast unhörbar.

„Na, sprechen wir nicht mehr davon,“ meinte Karl und fuhr sich mit der Hand durch die krausen Haare, „was hin ist, ist hin. Sprechen wir lieber von Ihnen, Fräulein Anna – erzählen Sie mir einmal, wie Sie sich Ihr späteres Leben denken!“

Anna zuckte die Achseln. „Nun – am liebsten denke ich es mir gar nicht,“ sagte sie dann mit einem Versuch zur Heiterkeit, „ich werde eben die fünf kleinen Mädchen unterrichten, bis es fünf große Mädchen geworden sind – und dann – nun, dann wird es ja wohl anderwärts irgendwo wieder fünf kleine Mädchen geben, mit denen werde ich das Unterrichten wieder von vorn anfangen. Und so wird es dann weiter gehen.“

Karl sah sie nachdenklich an. „Und immer unter fremden Leuten?“ sagte er dann vor sich hin.

„Ja – aber das thut ja nichts,“ meinte Anna, tapferer als ihr zu Mut war; sie wollte um keinen Preis sein Mitleid rege machen – jetzt weniger als je! „Ich bin ja gesund und jung!“

„Das sind Sie!“ meinte Karl und sah freundlich in das liebe Gesicht seines Gegenübers, „aber Sie bleiben doch nicht immer jung, Fräulein Anna! Wenn Sie einmal alt werden – was wird denn dann?“

Sie holte tief, tief Atem.

„Daran habe ich freilich noch nicht gedacht,“ sagte sie dann, „und es ist wohl auch besser, man denkt nicht daran – und,“ setzte sie stockend hinzu, „es werden ja auch nicht alle Leute alt.“

Karl sah sie erschrocken an.

Also so ein Leben lag vor dem armen Mädchen – vor dem netten, lieben Mädchen – daß sie darauf hoffte, nicht alt zu werden!

„Aber Fräulein Anna,“ sagt er mit unsicherer Stimme, „wer wird denn so etwas sagen?! Sie haben doch so viel – ich meine, es giebt doch so viel – Sie können ja doch so hübsch singen. Herrgott, daran habe ich ja nie mehr gedacht, wie hübsch Sie singen können!“ setzte er hinzu und verfiel in ein langes, nachdenkliches Schweigen, das sie auch nicht unterbrach.

Nach einer ganzen Weile hob er den Kopf. „Ein Klavier habe ich nicht gekauft bei der Aussteuer,“ sagte er dann.

„Nein?“ erwiderte Anna fragend.

„Nein!“ antwortete er, „sie – Binchen – konnte ja gar nicht spielen und singen – das hat mir schon immer sehr leid gethan. Ich höre es so sehr gerne.“

Keine Antwort.

„Sehen Sie mal, Fräulein Anna,“ begann Karl nach kurzem Schweigen von neuem, „Sie können sich das Altwerden nicht hübsch denken – na – ich eigentlich auch nicht. Dort unten in der Fremde – unter lauter Leuten, die knapp Deutsch verstehen, und mit einem chinesischen Koch – und wenn man dann des Abends müde nach Hause kommt, dann ist niemand da. Und es wäre doch sehr hübsch, wenn man dann jemand fände, der ein deutsches Volkslied singt!“

Anna wendete in tiefster Beklommenheit den Kopf hin und her.

„Sie haben ja kein Klavier,“ warf sie fast unhörbar ein.

„Nun, das ließe sich am Ende – das läßt sich ja beschaffen – das kriegt man auch drüben,“ meinte Karl, seltsam erheitert durch diesen Einwurf. „Fräulein Anna – darf ich Ihnen einmal etwas sagen?“

„Das kann ich Ihnen ja wohl nicht verbieten,“ meinte sie halb lachend.

In diesem kritischen Momente öffnete der Schaffner die Thür, um sich von dem Paar, das jetzt ohne Mitreisende war, die Billets zu erbitten.

Karl öffnete seine Brieftasche und fand neben seiner Fahrkarte die zwei Schiffsbillets – er warf einen raschen Blick auf dieselben und wurde ganz blaß.

„Ach so!“ sagte er verstört vor sich hin.

Der Schaffner sah ihn verwundert an, knipste an den Kärtchen herum und verließ das Coupé.

„Sehen Sie ’mal, Fräulein Anna,“ begann Karl nun wieder, fast ebenso verlegen wie sein Gegenüber, „hier habe ich mein Retourbillet nach China – und hier habe ich einen zweiten Schein, worauf ich mir meine Frau mitnehmen wollte – bitte, Fräulein Anna wollen Sie ihn sich nicht einmal ansehen?“

Anna schüttelte heftig den Kopf.

„Fräulein Anna – wenn Sie nun das zweite – wenn ich Ihnen das geben könnte – und Sie dann als meine Frau – Sie sind ja doch ein verständiges Mädchen, welches das Leben mit Ruhe ansieht –“

Aber das war zu viel! Anna, die beherrschte, sanfte, ruhige Anna, sprang von ihrem Sitz auf und trat mit blitzenden Augen vor Karl hin.

„Nein!“ rief sie überlaut, „nein, ich bin kein ruhiges, verständiges Mädchen – gar nicht die Spur! Und Sie mögen es denn einmal hören – einmal – und dann nie – nie wieder! – Ich habe Sie lieb gehabt mein ganzes Leben lang – schon wie ich mit der Schulmappe herumlief. Und ich habe an Sie gedacht und auf Sie gewartet und auf Sie gehofft – die ganzen langen Jahre hindurch – und ich habe es mit angesehen, daß Sie an mir vorbeigingen zu einer andern, die jünger und hübscher war, und ich habe mich nicht verraten. Aber wenn Sie nun kommen und mir sagen, Sie hätten keine Frau für Ihre Schiffskarte, und da sollte ich sie benutzen – da will ich es Ihnen doch sagen – als Retourbillet lasse ich mich nicht heiraten – und nun will ich aussteigen, und ich fahre nicht mehr mit Ihnen!“

Und ohne jede Rücksicht auf den erschwerenden Umstand, daß der Zug im vollsten Jagen war, rüttelte Anna mit beiden Händen an der fest verschlossenen Coupéthür, um, als diese – in diesem Augenblick entschieden die Verständigere von beiden – nicht nachgab und sie die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen einsehen mußte, in ihren Sitz zurückzufallen und in leidenschaftliches Weinen auszubrechcn.

Karl war durch die Ereignisse der letzten zwölf Stunden bis zur äußersten Leistungsfähigkeit seiner Nerven gebracht – es fehlte nicht viel, so hätte er ihr Gesellschaft geleistet. Zunächst that er es nicht – dafür aber das klügste, was er thun konnte – er ließ sie ruhig ausweinen, und als sie endlich – wie ihm schien, ungefähr nach einem halben Jahr – ihre Thränen zu trocknen begann und den Kopf erhob, da nahm er denn seine Verteidigungsrede auf.

Er setzte ihr mit großer, ehrlicher Wärme auseinander, daß er sie ja immer sehr gern gehabt hätte und daß er gar nicht der Mann dazu sei, jemand aus purer Gutmütigkeit zu seiner Frau

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 888. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_888.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)