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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Pius IX. war sichtlich überrascht, Charlotten im Hut vor sich zu sehen, ahnte aber wohl ihre getrübte Geistesverfassung und gab ihr mit besonders liebevollem Ausdruck den päpstlichen Segen. Einige Minuten später empfing er sie allein in seinem Studierzimmer und bat sie um die Erlaubnis, sein Frühstück in ihrer Gegenwart einzunehmen. Während sie nun beide ganz ernsthaft über die kirchlichen Verhältnisse in Mexiko sprachen, tauchte Charlotte plötzlich drei Finger in des Papstes Chokoladentasse, leckte sie ab und rief aus: „Das ist wenigstens nicht vergiftet. Alles, was man mir giebt, ist vergiftet und ich bin buchstäblich am Verhungern!“ Der Papst bot ihr an, eine zweite Tasse kommen zu lassen, aber sie flüsterte: „Nein, nein, man würde sie vergiften, wenn man wüßte, daß sie für mich sei! Ich teile lieber die Tasse Ihrer Heiligkeit.“ Damit tauchte sie wieder ihre Finger in dieselbe und fuhr damit fort, bis sie leer war. Der Papst ließ nun den Kardinal Antonelli rufen. Auch Dr. Seneleder war bald zur Stelle. Beide machten vergebliche Versuche, die Kranke zum Verlassen des Vatikans zu bewegen, denn diese beharrte darauf, zu bleiben, da draußen Mörder auf sie lauerten. Sie brachte den ganzen Tag in der Bibliothek des Papstes mit dem Ansehen von Miniaturen zu und bestand darauf, samt ihrem Gefolge auch die Nacht hier zu bleiben. Um die Kranke nicht zu reizen, gab Pio Nono sogar diesem unglaublichen Wunsch nach und ließ zwei prächtige Betten für Charlotte und ihre Begleiterin in die Bibliothek stellen.


Kaiserin Charlotte von Mexiko
vor ihrer Erkrankung.


Mit Aufbietung aller Diplomatie gelang es am folgenden Morgen, die Kaiserin dazu zu bewegen, ein nahegelegenes Nonnenkloster, das zugleich ein großes Erziehungshaus war, zu besuchen. Sie nahm zwischen zwei Nonnen im Wagen Platz, welche sie allen Blicken verbergen mußten, und breitete ihr Taschentuch über ihr Gesicht. Im Kloster schien sie sich wieder so sicher zu fühlen wie im Vatikan. Ein Zufall führte jedoch einen neuen Anfall herbei. Die Oberin bot ihr in der Küche eine kleine Portion des eben gekochten Mittagessens an, damit sie die Kochkunst der Anstalt beurteilen könne. Da entdeckte Charlotte an dem Messer, das man ihr reichte, einen kleinen Fleck. „Siehst Du das Gift?“ flüsterte sie ihrer Hofdame zu. „Sie haben vergessen, das Messer abzuwischen. Gott der Allmächtige,“ fuhr sie laut fort, „hat noch einmal Erbarmen mit seiner armen Magd gehabt. Gott sei gelobt! Denn wäre dieses Atom von Gift nicht auf dem Messer gewesen, so wäre der Plan meiner Feinde geglückt und würden Sie jetzt neben einer Leiche trauern!“ Dann kniete sie mitten in der Küche nieder und sprach ein stummes Gebet. Umsonst machte der Leibarzt sie darauf aufmerksam, daß jener Flecken einfach von Rost herrühre. Aber diese traurige Scene wurde von der folgenden noch überboten. Charlotte tauchte ihren Arm bis zum Ellbogen in einen kochenden Kessel, zog ein Stück Fleisch heraus und begann daran zu nagen. „Ich war so hungrig und dies Stück können sie nicht vergiftet haben,“ sagte sie dabei zu der entsetzten Oberin. Erst nach und nach schien sie die Brandwunden ihres Arms zu fühlen, und als der Leibarzt sie zu verbinden anfing, fiel sie in Ohnmacht. – Das war noch das beste, was geschehen konnte, denn nun ließ sie sich ohne Mühe in den Wagen bringen, der sie in ihr Hotel zurückführen sollte. Aber schon unterwegs erwachte sie, blickte zum Fenster hinaus, erkannte die Piazza di Spagna, die nicht auf dem Wege zum Vatikan lag, und verfiel in furchtbare Wut, so daß Dr. Seneleder und Frau del Barrio sie gewaltsam festhalten mußten. Die Kranke wehrte sich trotz ihres verwundeten Armes mit einer solchen Löwenstärke, daß sechs Personen die allergrößte Mühe hatten, sie nach der Ankunft vor dem Hotel aus dem Wagen und in ihre Gemächer zu bringen. Sie sah nun in allen, die sie umgaben, nur noch Mörder und Giftmischer, schrie und tobte und das Ende war, daß man der Unglücklichen die Zwangsjacke anziehen mußte. Ihr Schwager, Erzherzog Karl Ludwig, erschien zuerst von den Verwandten, die Graf Bombelles herbeitelegraphierte, und führte Charlotte nach Miramar. Dort trat nochmals eine Besserung ein. Charlotte, die noch immer an ihrem Kaisertraum festhielt, empfing hier ihren vierzehnjährigen Adoptivsohn, den Prinzen Itúrbide, den sie in Europa erziehen ließ, und gab ihm zu Ehren ein Galadiner.

Es war ihr letzter Akt als Kaiserin, bald trat völlige Umnachtung ein und führte zu ihrer Internierung in zwei belgischen Schlössern, zuerst Laeken und dann Bouchoute. Der Kaisertraum ist ihr aber auch hier geblieben. Sie sieht ihr einfaches Kleid und die sie umgebende Einsamkeit nicht, sie glaubt sich in glänzender Toilette, von einer großen Hofgesellschaft umgeben. Hat sie je den tragischen Tod ihres Gatten erfahren, der sich am 19. Juni 1867 in Queretaro mit mutiger Entschlossenheit den Kugeln der Republikaner preisgab? Man muß leider annehmen, daß ihr der Wahnsinn nicht einmal den Dienst geleistet hat, ihr dieses Ereignis zu verbergen. Wenigstens besitzt Hidalgo, einer ihrer treuesten mexikanischen Anhänger, einen Brief von ihr aus dem Jahre 1868, den sie in einem lichten Augenblick geschrieben zu haben scheint und worin sie von „dem edlen und heldenhaften Tode des Kaisers, einzig durch seine Selbstverleugnung wie durch die Größe des Opfers und den Geist, in dem es gebracht wurde,“ spricht. Auch hier nennt sie Max den Kaiser, auch hier hält sie noch am feierlichen Tone der Herrscherin fest.

So fiel der hervorragende Geist der hochbegabten Fürstentochter den Enttäuschungen und dem Verrat zum Opfer. Das Schicksal hat sich beeilt, sie dafür zu rächen. Der Sturz des französischen Kaiserreichs folgte dem des mexikanischen auf dem Fuße und wurde zum Teil durch jenen veranlaßt. Napoleon starb in der Verbannung, Eugenie erlebte den tragischen Tod ihres einzigen Sohnes im Zululande und Marschall Bazaine wurde wegen Landesverrats verurteilt und starb nach seiner Flucht aus der Festung Sainte-Marguerite in armseligen Verhältnissen zu Madrid. Verglichen mit ihnen ist Charlotte, die unter der besorgten Obhut ihrer Schwägerin, der Königin von Belgien, im Schlosse Bouchoute ihre Tage in stumpfer Bewußtlosigkeit verbringt, beinahe noch glücklich zu nennen.




Vielliebchen.

Novelle von Ernst Eckstein.


1.

Ueber dem altfränkischen Hausgarten lag die Septembersonne. Ein sechzehnjähriger Knabe, das kluge hübsche Gesicht leuchtend vor Uebermut und quellender Jugendlust, schritt nach der Geißblattlaube, wo ein schlankes, wunderschönes zwanzigjähriges Mädchen auf der hellgrün gestrichenen Bank saß und ein Buch in der Hand hielt.

„Störe ich?“ fragte er eintretend.

Die junge Dame sah auf. „Ach, Du bist’s, Feodor?“

„Ja, ich, Tante Marie! Erwartest Du sonst wen?“

„Das nicht,“ versetzte Marie Sanders. „Aber ich dachte, Du hättest noch Schularbeiten …“

„Das eilt nicht, Tante. Erst kommt das Wichtigere. Ich lauere nämlich seit ein paar Tagen schon auf eine gute Gelegenheit, Dich einmal ganz unter vier Augen zu sprechen.“

„So? Das klingt ja beinahe feierlich.“

„Es ist auch feierlich. Aber dabei auch ein bißchen komisch. Vielleicht lachst Du mich aus.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0012.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2021)