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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

und das gegebene Wort gebrochen. Die beiden jungen Leute benutzten die Zusammenkunft zu einer heimlichen Flucht und gingen auf und davon.

Der Vorfall machte ungeheures Aufsehen in der Universitätsstadt, gerade wegen der hervorragenden Stellung des Professors, und dieser, den der Schlag wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf, brach fast zusammen darunter. Er war von jeher ein ernster, strenger Mann gewesen, dessen starre Ehrbegriffe bis zur Härte gingen, und nun that ihm die einzige Tochter das an! Es änderte nichts an seinen Anschauungen, als nach einigen Wochen zugleich mit der Nachricht, daß die beiden im Auslande getraut seien, die Bitte um Verzeihung eintraf. Er zeigte sich jedem Versöhnungsversuche unzugänglich, beantwortete keinen der Briefe der jungen Frau, auch den letzten nicht, in dem sie ihm die Geburt eines Kindes anzeigte – für ihn gab es hinfort keine Tochter mehr.

Die Familie Bernrieds zeigte sich ebenso unversöhnlich. Sie verzieh dem ungehorsamen Sohne nicht den eigenmächtigen Schritt und vergab ihm noch viel weniger die Vernichtung ihrer Zukunftspläne, sie sagte sich völlig los von ihm. Der junge Baron seinerseits war viel zu stolz und eigenwillig, um da um Verzeihung zu bitten, wo er nur sein Recht der freien Selbstbestimmung auszuüben geglaubt hatte. Er antwortete auf jene Lossagung in der schroffsten Weise und damit war der Bruch endgültig vollzogen.

Man hatte dem jungen Ehepaare selbstverständlich alle Mittel entzogen, aber für die ersten Jahre reichte das Vermächtnis eines alten Verwandten hin, über das Bernried freie Verfügung hatte. Es wäre vielleicht ausreichend gewesen, irgendwo eine bescheidene aber sichere Existenz damit zu begründen, doch der im Schoße des Reichtums erzogene Mann, der nie Mangel und Sorge gekannt hatte, dachte nicht an eine solche Verwendung. Er lebte in gewohnter Weise weiter mit seiner Frau, und als die Summe reißend schnell zu Ende ging, verfiel er nach und nach dem Abenteurerleben, zog mit Weib und Kind unstet bald hierhin bald dorthin und wurde endlich nach Kairo verschlagen, wo seine Laufbahn ein so jähes Ende finden sollte. –

Das deutsche Hospital lag weit draußen in der Vorstadt, in einer Umgebung von Gärten und Villen. Hier sah und hörte man nichts von dem bunten, lärmenden Treiben der Stadt und das helle, freundliche Gebäude lag so friedlich da, als berge es nur Ruhe und Frieden in seinem Innern.

Es war am Spätnachmittage, als Sonneck durch den Garten schritt und in das Haus eintrat. Er bat die Pflegerin, die ihn empfing, den Doktor Walter herbeizurufen, der auch gleich darauf erschien.

„Sie kommen zur rechten Zeit,“ sagte er ernst. „Ich habe soeben meinen Wagen nach der Stadt zurückgesandt, um die kleine Elsa zu holen, denn – es geht zu Ende!“

„Schon jetzt?“ fragte Sonneck erbleichend.

„Ja, ich habe schon heute morgen befürchtet, daß Bernried den Abend nicht mehr erleben wird, und auch meine andere Voraussetzung hat sich bestätigt. Die Besinnung ist noch einmal voll und klar zurückgekehrt. Ich habe ihn auf Ihren Besuch vorbereitet und er verlangt danach, Sie zu sehen. Kommen Sie!“

Sie schritten durch einen Gang und betraten ein einfach aber freundlich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster weit offen standen.

Neben dem Bette, wo der Kranke lag, saß eine der Schwestern, die sich jetzt erhob, als der Doktor ihr einige Worte zuflüsterte, und das Zimmer verließ. Sonneck trat leise näher und beugte sich über den Kranken.

„Ludwig!“ sagte er halblaut, aber das ganze Weh dieses traurigen Wiedersehens lag in dem einen Worte.

Der Mann, der sich gestern noch in voller stürmischer Lebenskraft so wild aufbäumte gegen die Möglichkeit einer Niederlage, lag jetzt bleich und still da, aber der Ausdruck herber Verbitterung war aus seinem Antlitz gewichen. Es hatte ausgestürmt in diesen Zügen wie in diesem Leben.

„Lothar!“ sagte er matt. „Jetzt endlich kommst Du zu mir?“

Lothar verstand den Vorwurf und senkte das Auge. Er wollte sprechen, aber Bernried machte eine abwehrende Bewegung.

„Laß, Du hattest ja recht, ganz recht, es hat mir nur so wehe gethan. Ich habe viel Bitterkeit und Demütigung erfahren, seit es – abwärts ging mit meinem Leben, aber das Bitterste war doch die Stunde, wo Du an mir vorübergingst, ohne mich kennen zu wollen.“

„Hätte ich gewußt, daß Du eines Freundes bedarfst, ich wäre gekommen,“ entgegnete Sonneck gepreßt. „Ich ahnte es nicht, Ludwig, daß Du so allein standest mitten in dem großen Kreise.“

„Jawohl, allein, ganz allein! Ich hatte niemand als –“ der Kranke wandte plötzlich den Kopf nach dem Arzte, der an der anderen Seite des Bettes stand. „Mein Kind, meine kleine Elsa! Ist sie denn noch nicht da? Noch nicht?“

„Sie wird in zehn Minuten hier sein,“ beruhigte ihn Doktor Walter. „Ich führe sie dann sofort zu Ihnen.“

Sonneck hatte sich niedergesetzt und die Hand des Kranken in die seinige genommen. Dieser schien körperlich gar nicht zu leiden, aber es sprach eine angstvolle Unruhe aus dem Blick, mit dem er zu dem einstigen Freunde aufsah.

„Ich habe ein Kind, Lothar, ein einziges – was wird aus ihm, nach meinem Tode?“

„Ich weiß, ich habe Dein Kind heute morgen gesehen,“ sagte Lothar mit mühsam unterdrückter Bewegung. „Wie gern nähme ich es schützend in meine Arme! Aber Du weißt es ja, ich habe nicht Haus noch Herd, in wenigen Tagen ziehe ich wieder hinaus in die weite Ferne und kehre vielleicht erst nach Jahren zurück. Aber verlassen ist Deine Kleine ja nicht, sie hat einen Großvater.“

„Helmreich? – Er hat mir und seiner Tochter nie vergeben – er wird auch unser Kind nicht lieben.“

„Du thust ihm unrecht. Es ist das Kind seiner verstorbenen Tochter, die er trotz alledem mehr als alles andre auf dieser Welt liebte, es ist seine Enkelin, sein Blut, und sie wird sich bald genug in sein Herz stehlen. Wenn Du aber wünschest, daß wir uns an Deine Familie wenden –“

„Nein, nein, nur das nicht!“ unterbrach ihn Bernried erregt. „Nur da nicht betteln! Soll mein Kind das Gnadenbrot essen bei denen, die seinen Vater ausstießen? Versprich mir, Lothar, daß da kein Versuch gemacht wird.“

„Regen Sie sich nicht auf, Herr von Bernried,“ mahnte der Arzt besorgt. „Es wird ja alles geschehen, wie Sie es wünschen.“

Das kurze, fieberhafte Aufflammen hatte in der That die Kräfte des Kranken erschöpft. Er sank zurück und lag nun regungslos mit geschlossenen Augen. Da wurde die Thür von neuem geöffnet und an der Hand der Schwester erschien die kleine Elsa. Man hatte ihr gesagt, daß der Papa krank von der Reise zurückgekommen sei und daß sie sehr still und artig sein müsse, wenn sie ihn besuchen wolle. Sie hatte es auch versprochen, aber als sie nun den Vater erblickte, totenbleich, mit geschlossenen Augen, den Kopf mit weißen Tüchern umwunden, da schien dem Kinde doch die Ahnung von irgend etwas Furchtbarem zu kommen. Ehe die Schwester es verhindern konnte, machte es sich los, lief auf das Bett zu und rief mit einem lauten, angstvollen Aufweinen:

„Papa! Papa!“

Bernried zuckte zusammen bei dem Klange dieser Stimme und schlug die Augen auf. Er hatte noch die Kraft, die Arme auszustrecken und sein Kind an die Brust zu ziehen, es war ja das Einzige, was er wahrhaft geliebt hatte.

„Dein Papa ist sehr krank, Elsa!“ sagte Doktor Walter halblaut. „Du darfst jetzt nicht weinen oder laut sprechen, denn das thut ihm wehe, und dann darfst Du auch nicht bei ihm bleiben.“

Das Kind sah erschrocken zu ihm auf mit den großen, thränenvollen Augen, aber die Mahnung half. Es schluckte tapfer die Thränen hinunter und versicherte mit rührender Innigkeit:

„Ich will ganz, ganz still sein und nimmer weinen, wenn ich nur bei meinem lieben Papa bleiben kann!“

Ein Lächeln – das letzte! – flog über das Antlitz Bernrieds, dann begann er mit seinem Kinde zu reden. Es war nur ein Geflüster, matt und abgebrochen, mit schon erlöschender Stimme, aber die Kleine beruhigte sich dabei sichtlich. Der Vater sprach ja zu ihr mit der gewohnten Zärtlichkeit, nannte sie wie sonst seinen süßen kleinen Liebling; darüber vergaß sie den traurigen Anblick. Sie schlang beide Aermchen um seinen Hals und begann nun auch ihrerseits leise zu plaudern. Sie erzählte ihm, daß sie jetzt bei dem Onkel Doktor wohne und dort bleiben werde, bis der Papa ganz gesund sei und zurückkomme, erzählte von der guten Tante Walter, dem schönen Garten und dem weißen Hündchen.

Die süße, schmeichelnde Kinderstimme umspann den Sterbenden wie eine weiche, holde Melodie, die allmählich verklingt. Anfangs hörte und verstand er wohl noch die Worte und seine Augen waren unverwandt auf das Gesicht seines Lieblings gerichtet, dann aber

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0039.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)