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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Kunochen die Frage erging, wer er sei, gab er die Antwort: „Ich bin von“. Da ertönte ein großes schallendes Gelächter, und Kunochen hatte von Stunde an seinen Spitznamen weg und wurde von der ganzen Klasse „’s Vonle“ genannt.

Eduards erste That in der Schule war, daß er sich den großen weißen Spitzenkragen vom Hals riß und zerknäult in die Tasche steckte. Zu Hause erklärte er seiner Mutter, sie seien affig angezogen und er wolle nicht anders aussehen wie die anderen Kinder, denn das wäre eine Schande. Frau von Feldern ließ sich von ihrem Jungen nicht belehren, und so nahmen die Kämpfe kein Ende.

Aber indes Kunochen artig spielend oder lernend zu den Füßen seiner Mutter saß, war Eduard eine andere Welt aufgegangen, an der sein bis dahin verbittertes Kindergemüt ein herrliches Genügen fand.

Im Hause des Kaufmanns Schneider, wo sie wohnten, befand sich ein großer nicht eben wohlgehaltener Hof, in dessen Mitte eine herrliche Linde zum Himmel ragte. Eduard hatte die Weisung, im Frühjahr die Blüten zu sammeln und der Mutter zu bringen. Wer nämlich um die Sechsuhrstunde des Nachmittags bei Felderns eintrat, dem mußte der Anblick der um den Thee versammelten Familie den angenehmsten Eindruck machen; der Tisch war äußerst sauber und nett gedeckt; Frau von Feldern hatte den blank gescheuerten Theekessel neben sich und bereitete den Thee mit einer Würde und Sorgfalt, daß der feinste Souchong oder Pecco bei dieser Behandlung hätte zufrieden sein können; es waren aber nur Lindenblüten, die das strudelnde Wasser übergoß. Nach Genuß des Getränkes saß dann die ganze Familie in Schweiß gebadet da, und Frau von Feldern stellte noch außerdem die Anforderung an die Ihrigen, daß jedes diesen Prozeß so gut als thunlich zu verbergen habe, denn sparen sei keine Schande, nur dürfe man sich’s nicht merken lassen.

Herr von Feldern dachte zuweilen ein wenig anders als seine Gattin, aber er hatte schon lange aufgehört, dies zu äußern. Er war nie glücklich gewesen, weder in seinen Entschlüssen, noch in seinen Ratschlägen, so daß er es vorzog, sich nicht länger den Kopf zu zerbrechen, sondern das Schalten und Walten seiner um so viel klügeren und praktischeren Frau zu überlassen. Nur manchmal, wenn sie sich so gar unbillig über das Aeußere ihres Aeltesten ausließ und nicht begreifen wollte, wie sie zu einem so häßlichen Kinde komme, da konnte sich der Gatte nicht enthalten, ihr mit einer gewissen Schadenfreude vorzuhalten: „Er ist Dir ja wie aus dem Gesichte geschnitten.“

Beleidigenderes konnte es für Frau von Feldern nicht geben, denn sie hielt etwas auf ihr Aeußeres: ihre Nase war freilich etwas zu stark und ihr Kinn zu spitz, aber ihr volles schwarzes Haar umrahmte ein schön geschnittenes Gesicht und ihr dunkles Auge hatte einen gebietenden Blick.

Vielleicht wenn sie ihren Jungen oben in der Linde gesehen hätte, würde er ihr auch besser gefallen haben als am Mittagstisch, in ihrer beständig maßregelnden Nähe, vor dem nie nach Wunsch angefüllten Teller. Denn schließlich wußte sie den trotzigen Sinn des Buben doch zu bändigen, eben mit dem Mehr oder Weniger, das sie ihm zum Essen verabreichte, und der Ausdruck des innerlich gekränkten und gedemütigten Kindes wurde dadurch nicht schöner.

Aber dort oben in der Linde, ob es Blüten zu sammeln gab oder nicht, da war der kleine Bursche ein anderer, sobald er seine Wanderungen unternahm in sein Hochgebirge, die Krone; da saß er wie in einem Urwald zwischen dem dichten Blätterwerk, kein menschliches Auge konnte zu ihm dringen, kein „das schickt sich nicht“ und „das gehört sich nicht“ ihn ereilen; er streckte die Zunge heraus, bloß aus Vergnügen, weil es sich nicht schickte; er ließ sein frisches, lautes Kinderlachen ertönen, bloß weil seine Mama ihm gesagt hatte: „So lacht man nicht, das ist ordinär!“ Und was hatte er für Fernsichten; über welch’ eine Unmasse von Dächern sah er hinweg, weit, weit in die Ebene, in deren blaue Ferne die Sonne ihren feurigen Untergang hielt! Lichtete sich die Linde, indem sich ihr Blätterwerk färbte und sich allmählich zu ihren Füßen versammelte, da gab’s für den kleinen Burschen Einblicke in die nähere Umgebung, Köchinnenkämpfe von Küchenfenster zu Küchenfenster, Kinderabstrafungen, die in den Hofzimmern abgehalten wurden – kurz, es fehlte nie an unterhaltlichen und anregenden Scenen; indes, des Knaben höchstes Interesse war stets den Wohnräumen des Kaufmanns Schneider im Erdgeschosse zugewendet. Die Fenster der niedrigen Hofzimmer standen zur guten Jahreszeit stets offen, sowie die Thüre des kleinen Speisezimmers, zu welchem ein paar Stufen führten. Das ganze Leben und Treiben der Leute spielte sich auf diese Weise ebensogut im Hof wie in den Stuben ab. Zur Sommerszeit wurde an dem Tisch unter der Linde zu Mittag gespeist, gevespert und Abendbrot gegessen, und Herr Schneider wurde in den heißen Zeiten nicht müde, seiner geliebten Linde Gießkanne um Gießkanne erfrischenden Wassers zuzutragen. Für Eduard aber war dieser Mann mit dem zerknitterten Hemdenkragen und dem mit Flecken aller Art übersäten Rock das Höchste, was es auf der Welt gab. Immer kam er mit einer Zeitung daher geschossen und war außer sich über irgend einen Hagelschlag, eine Ueberschwemmung oder über sonst ein Unglück, das in der Welt geschehen war. Aber nur was das Volk anging, interessierte ihn, dessen Freuden und Leiden wären die seinen; gleich nahm er seinen Hut und lief davon, um da und dort sein Scherflein an eine Sammelstelle zu tragen. Anders war’s, wenn in der „haute vollée“, wie sich Herr Schneider ausdrückte, etwas vorgekommen war; da rieb er sich die Hände und freute sich, ob sich’s um ein Unglück oder um einen Skandal handelte, und hielt seine Rede, immer dieselbe, ob er am Wirtstisch oder an seinem eigenen saß.

„Ganz recht, freut mich, wenn der Herr Baron einen Lumpenstreich gemacht und der Graf ein Schwindler ist – sollen sehen, daß sie auch nur Menschen sind, Menschen wie wir, gut und schlecht. Beneid’ sie nicht, bin kein Sozialdemokrat und will sie nicht zu Grund’ richten, mögen ihren Namen behalten und ihre Grafenkronen und seidenen Betten dazu, aber sie sollen mir nicht in meinen Laden kommen wie die Pfauen. Ich bin der friedfertigste Mensch auf der Welt, aber sowie ich den Hochmut wittere, krieg’ ich ein Gallenfieber, ich könnt’ dann alles krumm und klein schlagen und so einen ‚Nas’-in-die-Luft‘ an den Beinen aufhängen. Aber ich nehm’ mich zusammen, denn ich sag’ mir – so lang’ die Welt steht, kommt der Hochmut vor dem Fall, nur werden die Menschen nie gescheiter.“

Mehr als diese Reden machte auf Eduard das „Nimm Dir – nimm Dir!“ Eindruck, womit Herr Schneider seine zwei Lehrlinge zum Essen aufforderte, während er selbst alle paar Augenblicke vom Tisch aufsprang und einem entsetzlich unruhigen kleinen Mädchen nachlief, das nicht am Tisch still sitzen konnte; unter den heißesten Bitten und Versprechungen nötigte er dem Kind bald eine Gabel voll Fleisch, bald einen Löffel mit Gemüse auf und war immer vergnügt, wenn er mit seiner Fütterung nicht unverrichteter Sache abziehen mußte.

Eduard malte sich’s aus, wie wunderschön das wäre, wenn am elterlichen Tisch auch solches „Nimm Dir – nimm Dir!“ an der Tagesordnung wäre und man so nach Herzenslust drauf los essen dürfte wie bei Schneiders. Aber welch’ ein Unterschied zwischen dem vollständigen Sichgehenlassen an diesem wohlversorgten Tisch und den Mahlzeiten im elterlichen Hause!

Und als sich eines Sonntags Eduard, im Hinblick auf die paar dünnen Wursträdchen auf seinem Teller, nicht enthalten konnte, mit einem Seufzer zu bemerken: „Heute haben Schneiders Gansbraten –“ da wurde der unbescheidene Sprecher mit ein paar Ohrfeigen zurechtgewiesen, daß ihm zu der kargen Mahlzeit auch noch der Kopf brummte.

Es gab nämlich nicht leicht zwei Menschen auf Gottes Erdboden, die sich mehr haßten als Frau von Feldern und der Kaufmann Schneider. Sie war für ihn der leibhaftige Inbegriff jenes Hochmuts, den er mit seinem Ingrimm verfolgte, während sie ihn nie anders als den bethranten Mann mit dem Heringsduft nannte. Sie bekriegten einander und lebten sich zu Leid, wo sie nur konnten, und alle paar Quartale flogen die Wohnungskündigungen zwischen dem Hausherrn und Frau von Feldern nur so hin und her, wurden aber immer wieder durch den demütig und freundlich bei Herrn Schneider vorsprechenden Gatten rückgängig gemacht. Denn hier blieb der sonst so nachgiebige und willensschwache Mann fest – er wollte das Haus nicht verlassen, in dem seine Eltern gestorben waren. Alles Reden und Drohen von seiten seiner Frau glitt an ihm ab; so oft sie gekündigt hatte, legte er sich ins Bett und stand nicht eher auf, bis sie ihm erlaubte, mit dem Hausherrn zu reden.

Frau von Feldern aber wäre aus mehr als einem Grunde gern gezogen; vor allem schämte sie sich, ihre spärlichen, kargen Einkäufe bei Herrn Schneider zu machen, und holte deshalb ihren Bedarf Gott weiß wo des Abends zusammen; allein sie näherte sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0050.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)