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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Selma, wie Du so unachtsam sein konntest, mich aus den Augen zu verlieren. Komm, wir wollen nach Hause!“

Selma wollte sich gehorsam von ihrem Begleiter losmachen, aber dieser hielt sehr nachdrücklich ihren Arm fest und versetzte, ganz unbekümmert um den sehr deutlichen Wink:

„Frau Mallner ängstigt sich in dem Menschengewühl und es ist auch wirklich lebensgefährlich hier in der Muski. Sie gestatten wohl, daß ich Sie noch eine Strecke weit begleite.“

Das Fräulein sah ihn von oben bis unten an, ob dieser Keckheit. „Wir danken, Herr Doktor, Sie können es uns getrost überlassen, allein – ja, was soll denn das heißen?“

Mit diesem entrüsteten Ausrufe unterbrach sie sich plötzlich, denn sie hatte eine ganz merkwürdige Berührung an ihrem Hute gespürt, und sich umwendend, gewahrte sie dicht über ihrem Kopfe den langen Hals eines Kamels, das einen schwarzbraunen Aegypter trug. Es konnte augenblicklich in dem Gedränge nicht vorwärts und benutzte diese Muße dazu, um mit harmloser Neugier den Hut der Dame zu untersuchen, aber da kam es bei dieser übel an. Sie hob den Sonnenschirm und gab dem Tiere einen so nachdrücklichen Schlag auf die Nase, daß es erschrocken zurückschnellte, während der Reiter in ein lautes, drohendes Geschrei ausbrach.

„Ja, schrei nur, Du Affengesicht!“ rief Ulrike, noch immer im hellen Zorn. „Denkst Du vielleicht, ich werde mich von diesem afrikanischen Untier so ohne weiteres auffressen lassen? Dergleichen verbitte ich mir ein für allemal!“

„Die Kamele nähren sich für gewöhnlich nicht von lebenden Menschen,“ sagte der junge Schiffsarzt lachend. „Das Tier war nur neugierig, es wollte Ihnen nichts Böses thun.“

„So wollte es meinen Hut fressen und den gebe ich auch nicht her,“ beharrte das Fräulein. „Aber nun vorwärts, daß wir endlich herauskommen aus diesem Hexensabbath. Mein Lebtag gehe ich nicht wieder in diese verwünschte Muski!“

„Ja, ohne Begleitung ist das auch für Damen nicht ratsam,“ stimmte Doktor Bertram sehr bereitwillig bei. „Aber unter dem Schutz eines Herrn –“

„Wir haben Begleitung,“ schnitt ihm Ulrike das Wort ab.

„Doktor Walter erwartet uns bei den Bazaren.“

Wenn sie glaubte, damit den unwillkommenen Begleiter los zu werden, so irrte sie sich, er rief in freudiger Ueberraschung:

„Ah, Kollege Walter, den wollte ich ohnehin aufsuchen! Ich habe ihn erst kürzlich in Namleh bei einem Landsmann getroffen. Den muß ich sofort begrüßen!“ Dabei hielt er seine Dame unbeirrt fest und steuerte seelenvergnügt mit ihr durch das Gedränge. Die arme Selma stand dabei Todesangst aus, sie wußte, daß sie diese Begleitung werde büßen müssen, so unschuldig sie daran war, und atmete förmlich auf, als sie endlich den Eingang der Bazare erreichten. Doktor Walter, dessen Suchen natürlich erfolglos geblieben war, wartete hier bereits und rief ihnen entgegen: „Nun, da ist ja meine verloren gegangene Patientin! Sieh da, Kollege Bertram! Also haben Sie Wort gehalten und sind auch einmal nach Kairo herüber gekommen? Das freut mich!“

Der junge Arzt schien sich über dies Zusammentreffen noch weit mehr zu freuen, denn er begrüßte den älteren Kollegen so stürmisch, daß dieser ihn ganz verwundert anschaute. Uebrigens schloß er sich ohne weiteres der kleinen Gesellschaft an, war aber nunmehr genötigt, hinter den beiden Damen herzugehen. Fräulein Mallner hatte sich in dem Augenblick, wo die Herren einander begrüßten, ihrer Schwägerin bemächtigt und ließ sie nicht wieder los.

Am Ausgange der Muski machte sie überhaupt jeder ferneren Begleitung ein Ende, indem sie einen Wagen herbeiwinkte und kurz und bündig zu Walter sagte: „Wir fahren nach Hause – adieu!“

„Aber das Wetter ist so wundervoll,“ versuchte Bertram einzuwerfen. „Wäre es nicht besser –“

„Wir fahren!“ unterbrach ihn das Fräulein, mit einem niederschmetternden Blick. „Vorwärts, Selma, steig’ ein – adieu!“

Sie stellte sich dicht vor den Schlag, weil sie sah, daß der junge Schiffsarzt Miene machte, ihrer Schwägerin beim Einsteigen zu helfen. Dann schob sie Selma in den Wagen, stieg gleichfalls ein und in der nächsten Minute fuhren sie davon.

„Fräulein Mallner ist eine sehr kriegerisch angelegte Natur,“ sagte Bertram lachend, indem er dem Wagen nachsah. „Sie kommandiert wie ein Unteroffizier und schleppt ihre Schwägerin davon wie eine eroberte Beute. Eine liebenswürdige Verwandtschaft!“

„Ja, es ist eine merkwürdige Dame,“ stimmte Walter bei. „Sie und ich sind nachgerade dahin gelangt, uns mit aller gegenseitigen Hochachtung so grob wie nur möglich zu behandeln. Auf diese Weise kommen wir aus. Aber wie ist’s, Kollege, darf ich Sie gleich mit nach Hause nehmen? Ihre Zeit wird sehr knapp sein, denn der ‚Neptun‘ liegt ja immer nur drei Tage vor Anker in Alexandrien, aber ein paar Stunden müssen Sie uns jedenfalls schenken!“

„Der ‚Neptun‘ ist schon wieder auf der Rückfahrt. Ich habe einen vierwöchigen Urlaub genommen, um mir Kairo einmal gründlich anzusehen. Man muß das doch kennenlernen.“

Der junge Arzt warf das anscheinend ganz unbefangen hin, aber Walter stutzte und sah ihn scharf an.

„Jetzt, in der Hauptsaison des Lloyd nehmen Sie Urlaub, um sich hier in Kairo zu amüsieren? Das könnte ich mir nicht leisten. Ich habe schon Mühe genug gehabt, mich für die acht Tage in Ramleh frei zu machen, und da lag eine ganz besondere Veranlassung, die Hochzeit eines Freundes, vor.“

„Ja, Sie lassen in solchem Falle auch Ihre ganze große Praxis im Stich. Auf dem Schiffe handelt es sich ja nur darum, daß überhaupt ein Arzt da ist, und ein junger Kollege aus Triest, der vorläufig noch keine Stellung hat, vertritt mich einstweilen. Aber nun eine Frage. Sie nannten Frau Mallner vorhin Ihre Patientin, haben Sie die Behandlung übernommen? Das trifft sich ja ausgezeichnet!“

„Trifft sich? Wieso?“

„Nun, ich meine das natürlich vom medizinischen Standpunkte aus. Der vorliegende Fall scheint sehr interessant zu sein.“

„Daß ich nicht wüßte, er liegt im Gegenteil sehr einfach. Sie hatten also Veranlassung, sich auch damit zu beschäftigen? War Frau Mallner krank während der Ueberfahrt?“

„Das nicht, ihre Schwägerin war seekrank und konnte während der ganzen Fahrt ihre Kabine nicht verlassen, die junge Frau dagegen kam mit einem leichten und ganz kurzen Anfall am ersten Tage davon. Ich verordnete ihr, möglichst viel auf Deck zu sein, da die frische Seeluft ihr wohlthat –“

„Und da haben Sie den interessanten Fall gründlich studiert,“ ergänzte Walter mit vollkommen ernster Miene. „Ja, wir Aerzte können das nicht lassen, auch wenn uns die Sache eigentlich nichts angeht.“

„Ich bin aber noch keineswegs im klaren darüber,“ sagte Bertram, der in seinem Eifer und seiner Ungeduld, den Kollegen zum Reden zu bringen, den Spott gar nicht merkte. „Vom bloßen Sehen und Berichten läßt sich da wirklich nichts feststellen, dazu gehört eine Untersuchung, die Sie jedenfalls vorgenommen haben. Ist der Fall ein schwerer?“

„Je nachdem – es kommt ganz auf die Behandlung an.“

„Auf die Behandlung? Wie meinen Sie das? Ist wirklich ein Lungenleiden vorhanden? Ist es ernster Natur? Mein Gott, Kollege, so reden Sie doch endlich!“

Doktor Walter war boshaft genug, noch einige Sekunden mit der Antwort zu zögern, dann aber sagte er mit einem bedeutsamen Achselzucken: „Nach allem, was ich sehe und höre, ist der Fall allerdings ernst, so ernst, wie er überhaupt nur sein kann.“

„Um Gotteswillen!“ fuhr der junge Arzt so bestürzt auf, daß der Aeltere den angenommenen Ernst aufgab und ihm lachend die Hand auf die Schulter legte.

„Strafe muß sein! Wenn Sie hartnäckig darauf bestehen, mir etwas vorzulügen, so bezahle ich mit gleicher Münze. Uebrigens bleibe ich dabei, der Fall ist sehr ernst – bei Ihnen nämlich! Also lassen Sie gefälligst den medizinischen Standpunkt fahren und beichten Sie, sonst erfahren Sie nichts von mir, keine Silbe.“

In das hübsche, gebräunte Antlitz des jungen Mannes stieg eine dunkle Röte und er sah stumm zu Boden, während Walter fortfuhr: „Der lange Urlaub in dieser Jahreszeit war mir gleich verdächtig, jetzt begreife ich ihn allerdings. Gestehen Sie es nur ein, Sie haben sich verliebt in die junge Frau, gründlich verliebt! Sie sind eigens nach Kairo gekommen, um die Bekanntschaft fortzusetzen, und wollen nun vor allen Dingen wissen, ob Sie überhaupt werben können und dürfen. Wir Aerzte kennen ja am besten die Gefahr der Vererbung bei Lungenkrankheiten oder wollen Sie jetzt noch leugnen?“

„Nein, nein, ich gebe alles das zu!“ rief Bertram. „Aber spannen Sie mich auch nicht länger auf die Folter und sagen Sie mir die Wahrheit. Darf ich –?“

„Wenn’s durchaus nicht anders geht – ja! Von Schwindsucht ist hier keine Rede, es handelt sich nur um eine hochgradige

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0070.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)