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„Zweiter Jüte.“

Eine Berliner Droschkenstudie von Hans Kraemer. Mit Bildern von Colanus.


Mit Windeseile flog der Eilzug der Kaiserstadt an Spree entgegen; schon war er an Potsdams herrlichen Schlössern vorübergebraust, und neben die blanken Schienen der Hauptlinie, die den Süden des Reiches mit dem Norden verbindet, reihten sich bereits die Geleise der Vorortbahnen. In kurzen Abständen rollten vollbesetzte Lokalzüge an uns vorüber, Tausende von Berlinern, die in den zu Städten aufgeblühten Dörfern der Umgebung sich angesiedelt haben, dem heimischen Herde zuführend. Allmählich verlangsamte sich dann der Lauf des fauchenden Dampfrosses; an die Stelle der schmucken, baumbeschatteten Villen, die bisher die Eisenstraße umsäumt hatten, traten hohe, unförmliche Mietskasernen, mit grell gemalten Reklamen an den Giebelwänden und düsteren, schmutzstarrenden Höfen. Auf festgefügten Brücken wurden Straßen und Wasserläufe fast lautlos überschritten; dann ein schriller Pfiff, mit scharfem Ruck griffen die Bremsen an die rasch sich drehenden Räder, und eine Minute später wölbte sich über uns die kühn gespannte Halle eines der größten Bahnhöfe im Herzen der Metropole. Schiebend und stoßend drängte die bunte Menge dem engen Ausgang zu, an dem die Fahrkarten abgefordert wurden, und halb betäubt ließ ich, der schüchterne Kleinstädter, der damals auf der Jagd nach dem flüchtigen Glück zum erstenmal Berlin betrat, mich von der Menschenwoge vorwärts tragen. Inmitten eines dichten Knäuls sah ich die Helmspitze eines Polizisten blinken und hörte, wie Männlein und Weiblein ihm abwechselnd zuriefen: „Erster!“, „Zweiter!“, „Gepäck!“; ich sah, wie sie eine große, weiße oder gelbe Blechmarke erhielten, jede mit einer eingeprägten Nummer, die sie alsbald mit aller Lungenkraft auf einen mit Wagen dicht besetzten Platz hinausschrieen. Sparsamkeit sollte mein oberstes Gesetz sein, drum bat ich, als die Reihe an mich gekommen war, entschlossen: „Zweiter!“ und rief dann in das Gewühl die Nummer 6543 … Ein weithinschallendes Hier! war die Antwort, und im Hintergrund sah ich eine dicke Gestalt mit struppig rotem Bart die Peitsche schwenken. Ich drängte mich zwischen den wiehernden Pferden und scheltenden Kutschern, die in langen Reihen den weiten Platz füllten, der Stimme folgend durch und sah mich nach einigem Suchen, bei dem mich die Zurufe anderer Rosselenker verwirrten, verblüfft vor einem Gefährt, das schlecht zu meinen Großstadtträumen paßte.

Auf hellblauen Rädern ein plumper, grünlackierter Wagenkasten, auf dessen Schlag mit Riesenlettern, schwarz auf weiß, die Nummer aufgemalt war und dessen Inneres an die alten Postchaisen entlegener Gegenden erinnerte; zwei schmale, hartgepolsterte Sitze, mit verblichenem, speckigem roten Plüsch bezogen, und davor, zwischen dem Kutschbock und dem Hauptteil des Wagens, eine komische Wand, oben durch Glasscheiben unterbrochen, unten mit geschmacklos gemustertem, bräunlichem Wachstuch benagelt. Und ich schaute nach rechts und schaute nach links und sah überall mit schreienden Farben bepinselte gelbe, grüne oder rote Räder und Wagenkasten in allen Nüancen der Musterkarte eines Dorfraffael, überall die schäbigen roten, seltener blauen Plüschpolster und ein durch Staub und Alter grau und rissig gewordenes Verdeck – wahrlich, so mochten die vielbestaunten ersten Mietskutschen ausgesehen haben, die unter Ludwig XIV. aufkamen und Fiaker genannt wurden, weil sie in der Rue St. Fiacre ihren Standplatz hatten.

Und zu dem aus der Großvaterzeit stammenden Gefährt paßten Kutscher und Roß aufs beste. Ein vierschrötiger, von Wind und Wetter dunkel gebräunter Mann, über dessen rundem Bäuchlein eine schmutzigrote Weste sich spannte; in einen halblangen, mit gelben Litzen benähten Livreerock gehüllt, dessen ehemals blaue Farbe sich mit einiger Phantasie noch ahnen ließ, und den dicken Kopf mit einem schwarzen, von gelbem Band umzogenen Lackhut bedeckt, der zerbeult war wie ein Reiterhelm nach 20 Schlachten. Und endlich equus caballus, das Pferd! Lächelnd und doch auch mitleidig beschaute ich die magere Mähre mit den dünnen, krummen Beinen, an denen die Gelenke wie dicke Wülste hervorstanden, und dem melancholisch zur Erde gesenkten Kopf; das war genau die Karikatur, wie sie in den illustrierten Witzblättern aller Länder zu finden ist. Ein brummiges „Hü, Alte!“ erklang, ein Peitschenhieb ergänzte den Weckruf und, was ich nie geglaubt hätte, der magere Schimmel schlug einen flotten Trab ein, der mindestens drei Straßen weit anhielt. Dann freilich ging er in Schritt über und entsprach endlich, überhaupt nur unter den nachdrücklichen Ermahnungen der Peitsche, kaum noch dem Tempo eines guten Fußgängers, während der Wagen, seitdem wir den glatten Asphalt verlassen hatten, mit lautem Gerassel hinterdreinpolterte.

Das war der erste Eindruck, den ich von Berlins Verkehrseinrichtungen und insbesondere von den berüchtigten Droschken „zweiter Jüte“ empfing. Seitdem sind Jahre vergangen; den Verkehr der von Tag zu Tag wachsenden Weltstadt suchen mit Dampf betriebene Hochbahnen, denen schon bald sich elektrische zugesellen werden, Dutzende von Straßenbahnen mit Pferde-, Dampf- und elektrischem Betrieb, Hunderte von Omnibussen und über viertausend vorzügliche Droschken erster Klasse zu bewältigen, aber daneben haben sich noch immer, in den elegantesten Vierteln des reichen Westens sogut wie in den ärmeren Straßenzügen des Nordens und Ostens, fast dreitausend jener altmodischen Fuhrwerke erhalten, die der Großstädter bei jeder Gelegenheit verspottet, aber anscheinend doch für unentbehrlich hält. Und da an

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0108.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)