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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

amtlicher Stelle der gleiche Geist herrscht, so wird die Metropole, die noch in vielen anderen Dingen sich den Charakter ihrer früheren Eigenart bewahrt hat, auch künftig dieselben veralteten Gefährte besitzen. Früher mochte es für den schlechten Zustand von Wagen und Pferden eine Entschuldigung geben, zur Zeit, als Berlin noch sein berüchtigtes Pflaster hatte, das jeden Versuch, Trab oder gar Galopp zu fahren, mit einem mehr oder minder schweren Unfall bestrafte – „bald lag das Pferd, bald lag der Mann!“ …

Abschied von Muttern.

Nur eines haben die Kutscher zweiter Güte vor den eleganteren Kollegen voraus, das ist ihre Popularität. Alt und jung bieten sie allezeit Stoff zu Witzen und Anekdoten, ohne daß einer der lachenden Spötter wohl ahnt, welches Leben ihre Opfer führen müssen, um kärglichen Verdienst zu erringen. Mag drum ein Tag aus ihrer Thätigkeit in Bild und Wort hier geschildert werden.

Wie das Kleingewerbe fast überall dem Großbetrieb weichen muß, so befindet sich auch nur ein Bruchteil der Droschken zweiter Klasse im Besitz ihrer Führer; die Mehrzahl gehört wohlhabenden Fuhrherren, die den Kutschern Wagen und Pferd überlassen und am Abend oder Morgen die Ablieferung einer bestimmten Summe verlangen. Hat der Kutscher mehr verdient, so behält er es, war die Tour schlecht, dann heißt es, aus den Ersparnissen den Ausfall ergänzen – oder die Kündigung erwarten. Vielfach vereinen große Stall- und Wohngebäude eine ganze Anzahl von Droschkenführern, die ihre Burg dann mit köstlichen Spottnamen belegen. Den ganzen Tag hindurch herrscht dort ein reges Leben: da führt ein alter Stallmann ein lahmes Rößlein langsam zum „Jungbrunnen“, um es zu tränken und zu striegeln, dort wird der Beschlag ergänzt oder das beim Fallen zerschundene Knie verbunden, dazwischen gefüttert, an- und abgeschirrt, geflickt und gereinigt, während ringsum Kinder und Sperlinge ihr Wesen treiben …

„Halt! 61!“

Der Nachtdienst ist meist lohnender als der am Tage, drum wird er vorgezogen; aber welche Beschwerden bringt er mit sich! Wenn die Sonne zu sinken beginnt, um die fünfte oder sechste Nachmittagsstunde, nimmt der Kutscher Abschied von Weib und Kind, die ihm vom kleinen Fenster der dumpfen Stube ihren Gruß zuwinken. Dann giebt er dem mageren Pferd einen zärtlichen Klapps, und hinaus geht es, ob nun lastende Schwüle auf den Straßen lagert oder der Sturm durch sie Hagelschauer peitscht, zur nächsten Haltestelle, die von der Polizei durch ein buntes Schild an der Mauer bezeichnet ist. O weh, da warten schon sechs Kollegen, rasch also nach dem nächsten Standplatz an einer minder belebten Ecke. Auch dort schon fünf, die vielleicht seit Stunden auf einen Fahrgast warten. Der neu Hinzugekommene reiht sich hinten an, hängt dem Pferd den Futterkübel um und wartet, wartet, wartet … Vorn sind zwei Wagen weggefahren, hinter ihm haben sich vier andere angeschlossen, darunter drei Bekannte, der „Baron“, mit dem keck aufgedrehten strohblonden Schnurrbart, ehemals Gefreiter beim Gardetrain, der „Pomadenaujust“ mit dem fettglänzenden, sorgsam über die kahlen Stellen gebürsteten, leicht schon ergrauenden Haupthaar und dem krausen braunen Vollbart, und endlich „Onkel Pietsch“, der bald Siebzigjährige, Schiedsrichter in allen verwickelten Streitsachen, seitdem er zehn Jahre lang „fors Jericht de Akten jefahren“. Noch hat keiner „Handgeld“, drum locken die Kümmelflaschen und Weißbierkruken der nahen „Destille“, die stolz „Kalt und Warm Frühstück – Weiß und Bayrisch Bier“ ankündigt, vergebens. Aber schließlich wird die Kehle doch trocken und man improvisiert einen soliden Skat um eine „Weiße“. Plötzlich erscheint,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0109.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)