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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

frohes Plaudern die Würze geben muß. – Ein Idyll, ein Stückchen Großstadtpoesie …

Winter! Dünne Eiskrystalle rieseln hernieder und überziehen die Straßen mit einer glatten Eisschicht. Vorsichtig, mit geschärften Eisen, trappeln die Pferde dahin, da, ein leichter Krach, ein Schrei und ein Fluch, die immer neugierige Menge läuft zusammen und umsteht den alten Kutscher, der vergebens sich müht, seine treue Stute, die fast zwanzig Jahre den blauen Wagen mit den gelben Rädern durch die Straßen der Metropole zog, wieder auf die Beine zu bringen. Thränen steigen in seinen Augen auf und rieseln langsam über die gebräunten Wangen in den bereiften Bart – alle Mühe ist vergebens, ein Beinbruch wird es nötig machen, das alte Tier zu töten. Unter der Menge, die um die Unfallstätte sich drängt, steht auch ein Mann in weißer Schürze, der um den Leib geschnallt einen blanken Messingkasten trägt, aus dem leichte Dampfwolken aufsteigen. Er allein schmunzelt und ruft dann mitten in die Gruppe hinein: „Warme Wiener!“ Und lachend zerstreut sich die Menge und erzählt die ewigjungen Anekdoten von den famosen Würstchen, in denen sich Hufnägel und Droschkennummern als Leckerbissen finden sollen …


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Der Hundertjährige Kalender.

Es war Anfang Januar dieses Jahres. Mit einem jungen begeisterten Naturforscher wanderte ich über Berg und Thal und hielt Rast in einem ländlichen Wirtshause. Da saßen auch die Korn-, Obst- und Weinbauern und sprachen, wie nicht anders zu erwarten war, von dem kommenden Wetter. Wie weit waren sie in dieser Hinsicht uns beiden Studierten über! Ausgerüstet mit allen Kenntnissen der Naturkunde, waren wir nicht imstande, die mutmaßliche Witterung über den nächsten Tag hinaus vorherzusagen, und die erfahrenen Leute am Nachbartische raisonnierten drauf los, wie sich die Witterung im Laufe des ganzen Jahres gestalten werde! Nun erfuhren wir, daß der Winter lange dauern und erst spät der Frühling kommen werde. Ende Mai sollen noch Fröste und selbst im Juni einigemal Reif sich einstellen; darauf kämen ein heißer, gewitterreicher Sommer und ein regnerischer Herbst, bis endlich ein mäßig kalter Winter mit vielen Schneefällen das Jahr abschließen würde. Viel Korn und viel Futter würde das Jahr dem Landwirt bringen, dem Obst- und Weinbauer aber weniger hold sein. Die Leute verschwiegen nicht die Quelle, aus der sie ihr weitgehendes Wissen geschöpft hatten: solches steht gedruckt in dem Hundertjährigen Kalender und wenn auch dieser Wetterprophet nicht gerade unfehlbar ist, so treffen doch seine Voraussagen nicht selten zu – also meinten die fleißigen Bauern, die mit Wind und Wetter anders rechnen müssen als die Städter.

Der junge Naturforscher an meiner Seite, ein Großstadtkind durch und durch, war erstaunt und empört über einen derartigen Mangel an Bildung. „Wie beschränkt sind die Leute, daß sie über derartiges Zeug im Ernst reden können,“ rief er, als wir weiter durch die Gebirgslandschaft wanderten. „Fürwahr, hier hat der Geist des Fortschritts Halt gemacht, und die Leute stehen in ihrer Geistesbildung um Jahrhunderte zurück!“

Mir kam jedoch das Erlebte nicht so schlimm vor. Der Hundertjährige Kalender ist wohl noch ein Ueberbleibsel alten Aberglaubens, aber er ist doch eine gestürzte und sterbende Größe. Und was den Wetteraberglauben anbelangt, so waren jene Bauern durchaus nicht so befangen wie ihre Vorfahren in früheren Jahrhunderten.

Ich besann mich auf ein Büchlein, das ich einst in den Händen gehalten hatte. Es war eine jener Flugschriften, die unsre heutigen Zeitungen ersetzten. Anno 1596 war sie als „Dreyerlei Warhaffte newe zeittung“ in Regensburg erschienen und die dritte Neuigkeit, über die sie berichtete, war: „Auß dem Landt Westuahlen, von der Statt Ossenbruckh, wie man auff einen Tag 133 Unhulden verbrennt hat, auch was Wunderes sie gestifft und bekendt und getrieben, geschehen den 9. Aprilis diß 96. Jars.“ Es waren arme Wetterhexen, denen man derart mit Feuer zu Leibe gegangen war, und es hieß von ihnen in jener „Zeittung“: „Weiter habens bekend der massen, wie sie habn außgehen lassen grausame Wetter und Wasserguß mit Hagel und mit Steinen, großen Schaden gethan an Bäumen wol durch ihr Teuffels Kunst.“ Solche Folgen kann der Wetteraberglauben in unserem Jahrhundert doch nicht mehr nach sich ziehen; wie abergläubisch auch hier und dort unser Volk noch sein mag, einer solchen Schandthat wäre es heute nimmermehr fähig – wir sind gegen früher gewaltig fortgeschritten und wenn wir mit Geduld weiter arbeiten, so wird es uns gelingen, auch die harmloseren Reste des Aberglaubens auszurotten! Stets muß man aber dabei bedenken, daß Meinungen, die Jahrtausende bestanden und sich von Geschlechtern zu Geschlechtern vererbt haben, nur langsam zu Fall gebracht werden können; und auf einer solchen uralten Anschauung beruht auch der Hundertjährige Kalender.

Eine der ältesten Geheimwissenschaften ist die Astrologie, die da lehrte, daß die Himmelssterne bestimmte Einflüsse auf alles irdische Leben ausüben, und schon die alten Chaldäer kannten die Kunst, aus der Stellung der Gestirne wahrzusagen; schon vor Jahrtausenden betrafen ihre Prophezeiungen nicht nur Zukunftsschicksale einzelner Menschen und politische Ereignisse, sondern auch das kommende Wetter. Die Kulturvölker Europas erbten die Grundzüge dieser Geheimwissenschaft von den Asiaten und bauten die Astrologie in eigener Weise aus. Zu welcher Blüte sie am Ausgang des Mittelalters gelangt war, in welchem Ansehen sie noch in der neueren Zeit stand, ist wohl jedem bekannt. Achtete doch ein Mann wie Wallenstein auf das Gerede der Sterndeuter. Zur Zeit, da jener Hexenprozeß in Osnabrück stattfand, lebte der berühmte Astronom Kepler als steirischer Landschaftsmathematikus zu Graz; er hatte sich zwar von dem Banne der Astrologie innerlich befreit, aber er war durch Amtspflicht gezwungen, Kalender zu machen und dieselben mit Voraussagen zu versehen, die sich zum Teil auf politische Ereignisse, zum Teil auf die Witterung bezogen. Da wurde er wider eigenes Erwarten zu einem berühmten Propheten; denn die in seinem ersten, 1595 erschienenen Kalender ausgesprochenen Prophezeiungen trafen ein; Kepler hatte einen starken Winter vorausgesagt und es trat in der That ein so strenger Winter ein, daß die Gemsen in großer Zahl zu Grunde gingen. Im sechzehnten Jahrhundert ist eine große Anzahl solcher Kalender erschienen und die Grundlage, auf welcher sich die Prophezeiungen aufbauten, war im kurzen folgende.

Das Ptolemäische Weltsystem, an das sich die Astrologen hielten, kannte sieben Planeten, als da sind: Sonne, Venus, Merkur, Mond, Saturn, Jupiter und Mars. Die Astrologen lehrten nun, daß jeder von den sieben Planeten während eines Tages in der Woche das Regiment habe, also die Ereignisse auf der Erde bestimme, und außerdem behaupteten die Sterndeuter noch, daß an jedem Tage nach Ablauf einer Stunde der Planet, welcher während derselben der regierende gewesen sei, einem anderen diese Stelle einräume, so daß nicht nur bezüglich der Wochentage, sondern auch bezüglich der Tagesstunden ein regelmäßiger Wechsel in der Herrschaft der Planeten eingehalten würde. Schließlich einigte man sich noch dahin, daß die Planeten sich auch in der Herrschaft über ein ganzes Jahr ablösen. Je nachdem nun dieser oder jener Planet zur Geltung kam und in seiner Wirkung von den andern Sternen unterstützt oder geschwächt wurde, sollte sich das Wetter gestalten. Die Charaktereigenschaften der Planeten waren genau festgestellt. Von dem Saturnus hieß es: „Er ist der oberste der Planeten, ein Verderber und Feind der Natur. Giftig von Wesen, kalt und trocken. Die Wage ist seine Erhöhung, darin er große Gewalt hat, der Steinbock und der Wassermann sind seine Häuser. Wenn der Saturn der Erde so nahe wäre wie der Mond, so wäre es allzeit Winter. Wenn der Mond neu wird in des Saturnus Stund’, so wird der Monat vorwiegend kalt und meistenteils feucht.“ Jupiter, unter dessen Regiment das Jahr 1896 steht, galt nach den astrologischen Lehren als feucht und warm, Mars als heiß und trocken, der Mond sollte Kälte und Wind bringen etc.

Da nun die Reihenfolge, in der sich die Planeten in ihrem Regiment ablösen, gegeben war, so bot es durchaus keine Schwierigkeit, die Witterung nach dieser Anleitung für viele Jahre vorauszubestimmen, und in der That soll schon ein Abt Namens Mauritius Knauer im 16. Jahrhundert einen Kalender geschrieben haben, in welchem die Witterung für die nächsten hundert Jahre vorausgesagt wurde. Daher soll auch der Name

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0111.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)