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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Hundertjähriger Kalender“ stammen. Am berühmtesten wurde aber ein Hundertjähriger Kalender, den im Jahre 1701 ein thüringer Arzt, Dr. Hellwig, veröffentlichte und in dem die Witterung für die nächsten sieben Jahre vorausgesagt wurde. 1707 wurde das Büchlein von neuem aufgelegt und seitdem sind viele neue Ausgaben erfolgt. In ähnlicher Weise wurden andere hundertjährige Kalender fabriziert, da sie lange Zeit hindurch willige Abnehmer fanden. Noch heute teilen viele Kalender den Hundertjährigen wenigstens im Auszug mit.

Aus dem Gesagten erhellt zur Genüge, daß die Prophezeiungen der „Hundertjährigen“ eitel Wind und Phantasie sind. Von den meisten Kalenderherausgebern werden diese Mitteilungen als ein Scherz betrachtet, den sie dem Publikum mitbieten. Diejenigen, die nicht wissen, wie ein solcher Hundertjähriger Kalender gemacht wird, die meteorologisch wenig Gebildeten, vermuten aber mitunter, daß sich dahinter irgend eine aus hundertjähriger Erfahrung beruhende Weisheit verberge, und legen leider dem Geschwätz eine Bedeutung bei, die es ganz und gar nicht verdient. Es wäre wohl zu wünschen, daß in Volkskalendern anstatt der nackten Wiedergabe des Hundertjährigen eine kurze Aufklärung über seine Vorgeschichte und seine Nichtigkeit gegeben würde. Allein es hat den Anschein, als würde der Hundertjährige Kalender nicht so bald von der Bildfläche verschwinden und als alter Vertreter der Astrologie noch im zwanzigsten Jahrhundert fortleben; das Bewußtsein, daß er nur als Scherz aufzunehmen ist, sollte umsomehr in immer weitere Kreise dringen! M. Hagenau.     




Geschichten des Herrn Direktors.

Nacherzählt von Ernst Lenbach.
1.0 Kollege Logarithmikus.

Es giebt nichts Heilkräftigeres als die Zeit. Wer lange lebt, der hat’s erfahren. Seit dem Tode meiner lieben Frau ist jetzt bald ein Vierteljahrhundert verflossen. Diese lange Zeit hat dem Bilde, das ich im Herzen trage, nichts von seinen Zügen und Farben genommen; allmählich aber und ganz unvermerkt hat sie von meinen geistigen Augen den dunklen Flor weggezogen, durch den ich rückschauend jahrelang so Freude wie Leid in die eine trübe Farbe einer unsäglichen Wehmut gekleidet sah. Nun kann ich heiteren Blickes im Garten der Erinnerung neben den Cypressen und Rosen auch wieder so manches bunte lustige Blümlein finden, das an unserem Lebenswege aufsproßte, um uns so ganz für uns eine kleine närrische Freude zu machen. Und wahrhaftig, närrisch genug ist es oft mit uns zugegangen. Zum Beispiel gleich mit unserer Verlobung. Verliebt war ich ja in meine spätere Lebensgefährtin und wie sie behauptete, sie auch in mich gleich vom ersten Tage an, wo der junge Gymnasiallehrer mit dem winzigen Gehalt die kleine Lehrerin ohne Vermögen kennenlernte: aber daß wir uns endlich aussprachen und einander bekamen, daran war doch eigentlich nur mein Kollege Dr. Meurer mit seiner Leidenschaft für die Logarithmentafel schuld.

Wir waren damals unser vier unverheiratete Lehrer im Kollegium – ein ganz merkwürdiges Kleeblatt. Drei von uns waren noch jung und jeder hatte eine besondere Schwärmerei – der wissenschaftliche Hilfslehrer schwärmte für Entdeckungsreisen in Afrika, der Zeichenlehrer für niederländische Gemälde, nebenbei auch für die auf ihnen so vorzüglich behandelten Tafelfreuden, ich schwärmte, natürlich ganz im stillen, für meine Ida – unser Kollege von der Mathematik aber übertraf uns alle durch die Glut seiner Leidenschaft und durch das rein wissenschaftliche Ideal, dem sein fünfzigjähriges Herz geweiht war: er jagte auf Druckfehler in Logarithmentafeln. Mit diesem seltsamen Namen bezeichnet man bekanntlich jene recht dickleibigen Bücher, in denen die Logarithmen – eine für den Mathematiker unschätzbare Sorte von Zahlen – alle fertig ausgerechnet hinter einander stehen; und man weiß, daß die Verleger dieser nützlichen Handbücher jeden Nachweis eines Druckfehlers mit einem Goldstück zu belohnen pflegen. Es war der größte Stolz unseres Kollegen Meurer, daß er bereits ein Dutzend solcher Stücke besaß, die er in einem rotsamtenen Beutelchen bei sich trug, um sich in weihevollen Stunden an ihrem Anblick zu begeistern. Es war aber keineswegs schnöde Gier nach dem Besitze solcher im Verhältnis zu der aufgewandten Mühe lächerlich geringen Belohnungen, was ihn antrieb – die Druckfehlerjagd war für ihn längst zu einer reinen Leidenschaft geworden, die sich kaum noch um des guten Scheins willen ein ganz dünnes wissenschaftliches Mäntelchen umhing. Er pirschte auf verdruckte oder verschriebene Ziffern mit derselben Sucht, wie andere Leute auf Hasen pirschen und um der Aussicht willen, ein- oder zweimal im Jahr ein solches Tierchen zu erbeuten, Tausende von Mark an Pachtgeld ausgeben. Im übrigen war unser Dr. Meurer kein Spielverderber, eingefleischter Hagestolz freilich, aber ein trefflicher Lehrer, verträglicher Kollege und überhaupt was man eine Seele von einem Menschen nennt; aber wenn seine Leidenschaft über ihn kam – es war wie eine Art Quartalsrausch – dann war er für nichts anderes zu haben und vor allem von einer geradezu beispiellosen Zerstreutheit.

Nun, wir saßen eines Tages nach unserem gemeinsamen Mittagsessen beisammen – der wissenschaftliche Hilfslehrer hatte, weil sein Geburtstag war, eine Flasche zum Besten gegeben – und plauderten über die schlechten Gehalts- und Pensionsverhältnisse, was auch damals schon das beliebteste Thema war, wenn ein paar Schulmenschen beisammen saßen. Da läßt irgend wer – ich fürchte, ich war es selber – so halb im Scherz die Bemerkung fallen: „Wenn wir es einmal mit einem Viertellos in der Staatslotterie versuchten? In vier Wochen ist Ziehung.“

Der Einfall zündete. Kollege Meurer unterließ zwar nicht, uns auf Grund der Wahrscheinlichkeitsrechnung fachwissenschaftlich nachzuweisen, daß die Aussicht auf Gewinn für jeden von uns eine bedeutend kleinere Summe bedeute, als er an Einsatz zahlen müsse; aber schließlich war er doch auch mit dabei und übernahm es als Mann der Zahlen sogar, das Los zu kaufen und zu bewahren.

Als wir ihn am folgenden Morgen darüber befragten, sah er uns zuerst verständnislos an. Er trug die Logarithmentafel unter dem Arm, offenbar hatte er über Nacht wieder einen Anfall bekommen. Endlich aber begriff er doch. „Das Los – ja natürlich, das habe ich gestern abend gleich gekauft. Bei Marcus Seligmann, ja.“0 „Wissen Sie denn die Nummer?“ fragte unser Zeichenlehrer mißtrauisch, „ich meine: können Sie uns die Zahl nennen?“

„Aber gewiß,“ erwiderte Dr. Meurer stolz und zog ein Blättchen aus seinem Logarithmenbuch, „die Zahl – warten Sie, hier habe ich sie notiert, hier: drei–eins–vier–eins–sechs.“ Wir notierten uns die Nummer. „Merkwürdig,“ brummte der Wissenschaftliche, „die Zahl kommt mir so bekannt vor.“0 „Das ist ein gutes Zeichen,“ meinte ich.

Und es war auch eins. Vier Wochen darauf – es war gerade die Zeit des großen Herbstjahrmarkts, während dessen unser kleinstädtisches Gymnasium nach einem uralten Herkommen drei Tage Ferien hatte – komme ich des Vormittags an unserem Gasthof „Zum Schwarzen Engel“ vorüber, da sitzt der Zeichenlehrer hinterm offenen Fenster vor einer Flasche Rheinwein und einem erschreckend üppigen Frühstück und winkt mich mit dem gefüllten Römer freundlich hinein.

„Nanu,“ sage ich, „Sie haben wohl geerbt?“ „Setzen Sie sich,“ antwortet er, „mir scheint, Sie wissen noch nichts von der Sache, es könnte Sie angreifen. Ja, sehen Sie, lieber Herr Kollege, das“ – er deutete mit einer großartigen Handbewegung über die gedeckte Tafel hin – „das können wir uns jetzt alle Tage leisten. Und morgen lasse ich mir vom Buchhändler das Rembrandtwerk kommen. Die Sache ist nämlich die – aber Fassung, Freund! – unser Los ist mit dem zweiten Hauptgewinn heraus. Macht auf den Mann 14,000 Thaler netto. – Da liegt die Liste, sehen Sie hier: Nr. 31416.“

Im ersten Augenblicke benahm es mir doch den Atem; und dann fuhr es mir wie ein Wirbelwind durch den Kopf: „Ida – Verlobung – Heirat – eigenes Heim!“

Unterdes hatte sich auch unser Hilfslehrer eingefunden. Der hatte seinen Plan schon fertig: zum Ostertermin wollte er um seine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0112.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)