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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

sitzt unser Gast da am Tisch vor Büchern und Papier, die Ilse guckt ihm über die Schulter ins Buch und fragt, wie sie mich hört: „Du, Vater, das mußt Du uns aber schon erklären“ – aber ich zog mich schleunigst wieder zurück – denn unter uns, so ganz leicht ist mir die Erzählung Cäsars von seinem Brückenbau auch nie gewesen. „Laß die beiden allein fertig werden,“ sagte ich zu mir.

Und das wurden sie denn auch: denn ein paar Tage darauf, als ich nichtsahnend auf meinem Zimmer sitze, geht auf einmal die Thür auf und mein Amerikaner steht da, Hand in Hand mit der Ilse, hält mir einen beschriebenen Bogen Papier hin und sagt: „Hier, Herr Direktor, ist die Strafarbeit aber ich fürchte, Sie werden viel Fehler darin finden. Und seien Sie nicht böse, daß ich Ihnen den Streich gespielt habe – ich habe mich nämlich mit Ihrer lieben Tochter verlobt!“

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Nun, da war ja schließlich nichts mehr gegen zu machen. Es ist mir freilich hart gefallen, sehr hart, mein Kind von mir fort zu lassen, über das Weltmeer hin; aber sie hoffte ja so gewiß, dort, an seiner Seite ihr Lebensglück zu finden – ich durfte es mit ihr hoffen – und sie hat es gefunden. Besucht habe ich die beiden nie, trotz all ihrer Bitten – es ist doch ein zu langes Ende Weg für einen alten Mann; aber sie selber sind ja alle drei oder vier Jahre mal zu mir gekommen – und jetzt zum Herbst kommen sie wieder: sie bringen ihren Aeltesten mit, der soll in der alten Heimat studieren – denn er will absolut Philologe werden, was doch eigentlich ein merkwürdiges Stück ist von einem Amerikaner und ein schöner Beweis, daß so ein richtiges deutsches Philologenblut gar nicht kleinzukriegen ist – es schlägt immer wieder durch. Na, dem werde ich aber einmal ein nettes Stück Uebersetzungskunst von seinen Eltern zeigen! Dieses Brückenkapitel! Ich habe es mit roter Tinte korrigiert – es ist mehr rot als schwarz daran. Einundzwanzig ganze und dreizehn halbe Fehler – „durchaus ungenügend!“


3.0 Liktor Kallmeyer.

Liktor Kallmeyer! – Manchem früheren Schüler unseres alten Gymnasiums zu St. Augustin werden diese zwei Worte das ganze Bild der Schulzeit wieder vor die Seele rufen, deutlicher und vielleicht auch angenehmer als es der Name irgend eines Lehrers vermöchte. Vierzig Jahre lang war der ehemalige Unteroffizier Pedell an unserer Anstalt. Während dieser langen Zeit verwuchs seine Persönlichkeit so ganz mit dem Gymnasium, daß man sich eigentlich eins ohne das andere nicht mehr denken konnte. Generationen von Schülern hatte er Jahr um Jahr, von der Sexta bis zur Prima alltäglich mit dem Geläut der Schulglocke zur Pflicht gerufen, unzählige mehr oder minder berufseifrige Pädagogen hatten sein Gesichtsfeld durchkreuzt, und als einmal jemand bei einer Bismarckfeier darauf hinwies, daß unser großer Staatsmann vier preußischen Königen nacheinander gedient habe, bemerkte der Alte selbstbewußt: „Na, wissen Sie, ich stehe jetzt hier auch schon unter dem vierten Direktor!“ Seitdem wollten einige vorwitzige Leute ihm den Spitznamen „Kanzler Kallmeyer“ anheften.

Aber die geschmacklose Erfindung verschwand alsbald vor einer besseren, als ihn nämlich unser Primaner Mahrholtz – er ist jetzt ein angesehener Maler – in Wasserfarben malte, wie er als römischer Liktor mit dem Beil und dem Rutenbündel im Arme vor mir herschritt. Ich habe es dem Mahrholtz damals scharf verwiesen, denn es schickt sich nicht, daß ein Schüler – selbst an einem humanistischen Gymnasium – seinen Direktor in altrömischer Tracht darstellt, noch dazu mit der Glatze eines Cäsar, und das Blatt habe ich natürlich konfisziert, aber sorgfältig aufbewahrt und oft mit Vergnügen betrachtet; denn die Ausführung war gar nicht übel, und die Idee auch nicht. Wenn unser Kallmeyer vor der Andacht auf den Katheder stieg, um die Bibel zurechtzulegen und im Winter die Wachskerzen anzuzünden, – wenn er bei Schulfeierlichkeiten vor dem Rednerpulte stand, mit all seinen Dienstschnallen und militärischen Ehrenzeichen auf dem schwarzen Rock, aufmerksam des Augenblickes harrend, wo er als Erster mit hochgehobener Rechten in das von dem Redner zum Schluß ausgebrachte Hoch auf Seine Majestät einfallen werde, – oder wenn er mit einem klirrenden Schlüsselbund von mittelalterlich grausigem Aussehen irgend einen armen Sünder in das Karzerstübchen geleitete, – stets war seine hagere Erscheinung von einer Würde umflossen, die sich wirklich nur mit dem Amtsbewußtsein eines römischen Liktoren vergleichen ließ. Ihren vollsten Ausdruck aber fand diese Würde in Mienen und Haltung des Alten, wenn er zu Beginn und Ausgang der Stunden, den Blick auf die große Schuluhr gerichtet, an das Glockentürmchen auf dem Klosterhof trat und das Läutseil ergriff. In diesem Augenblick fühlte er sich vollkommen als die entscheidende Persönlichkeit, den Herrn über Freiheit und Schicksal aller dreihundertfünfzig Schüler an St. Augustin.

Mit der Zeit hatte sich von dem Selbstbewußtsein auch etwas in seine Ausdrucksweise gemischt, was sich besonders darin zeigte, daß er mir gegenüber von meinen direktorialen Sorgen und Obliegenheiten stets nur in der ersten Person Pluralis sprach: „Herr Direktor, wir werden heute nachmittag wohl Hitzferien machen müssen,“ – „Herr Direktor, wir müssen einmal die Schulgesetze in Erinnerung bringen, unsere Jungens werfen beim Spielen mit Steinen,“ – „wollen Herr Direktor nicht vergessen, daß wir heute um sechs Uhr Konferenz haben.“ Wenn das Abiturientenexamen nach Wunsch ausgefallen war, so sagte er: „Na, Herr Direktor, diesmal haben wir ja einen guten Jahrgang gehabt,“ – hatte es aber wenig Befreiungen vom „mündlichen“ oder gar einige Zurückgewiesene gegeben, so sah er mich wehmütig tröstend an und meinte: „Nun, Herr Direktor, nächstes Jahr werden wir wohl besser abschneiden!“ Denn er hatte ein Herz für die Schüler wie für die Schule, und ein guter Examensabschluß war ihm so etwas wie eine persönliche Auszeichnung.

Nachgerade waren wir beide grau geworden, ich fing an, mich auf das Leben im Pensioniertenstand vorzubereiten, – nur den Einzug in unser neues Gymnasium, dessen Bau gerade damals begonnen hatte, wollte ich noch abwarten, um dann einer jüngeren Kraft Platz zu machen. Der alte Kallmeyer wollte lange nichts von dergleichen wissen – „Herr Direktor, wir halten es noch eine Weile aus!“ Die Sorge ums Brod war es nicht, die ihn an seinem kleinen Amte festhielt; seine Tochter – ein hübsches braves Mädchen, die blonde Heldin mehrerer Jahrgänge Primanerlyrik – war mit einem Gärtner verheiratet, einem wohlhabenden Manne, der draußen eine knappe Stunde vor der Stadt wohnte, und sie hätten es längst gern gesehen, daß ihr Vater nicht mehr den Schulhof ausspritzte und die Schulglocke zog – aber wie gesagt, er wollte nicht dran. Eines Tages aber, bei der Andacht, da konnte er es mit dem Stehen nicht mehr aushalten und mußte sich vorn auf einer Schülerbank niederlassen. Tags daraus trat er bei mir an und meldete mir sein Abschiedsgesuch. „Es geht nicht mehr, Herr Direktor – da müssen wir eben hinter die Front.“ Er sagte mir das in militärischer Haltung und möglichst stramm, aber seine Stimme zitterte wunderlich, und seine braune, runzlige Hand auch.

So wurde er denn pensioniert – einen kleinen Orden bekam er auch – und ein jüngerer Anwärter, frisch vom Militär, trat an seine Stelle. Der Alte zog hinaus zu seiner Tochter; daß er es dort gut hatte, wußte ich unbesehen, und er sah auch recht sauber und wohlgepflegt aus, als ich ihm ein paar Monate später in der Stadt begegnete; aber es war doch etwas Gedrücktes in seinem Wesen. „Na, Kallmeyer, wo fehlt’s denn?“ fragte ich. „Ach, Herr Direktor,“ meinte er seufzend, „die Schule fehlt mir. Da draußen auf dem Gütchen, die Stille, und immer einen guten Tag um den andern – wissen Sie, das ist nichts für uns. – Ich muß sehen, daß ich wieder näher an die Schule komme.“

Das verstand ich nun erst nicht. Einige Wochen darauf aber hörte ich, daß er sich in einem Hause unfern der Schule ein Zimmerchen gemietet habe. Er hatte es nicht länger auf dem Lande ausgehalten. Nun konnte er doch alle Tage im Fenster liegen und sehen, wie die Schüler mit ihren Ranzen vorbeieilten und lärmten.

Eines Tages, um die Zeit der großen Morgenpause, stand er am Gitter des Schulhofes. „Nun, Kallmeyer,“ sagte ich, „immer munter?“ Er sah aber gar nicht munter drein. „Herr Direktor,“ seufzte er ganz kläglich, „es fehlt mir noch immer.“ „Was denn?“ Da deutete er traurig nach dem Glockentürmchen, wo der neue Pedell gerade die Klappthür öffnete und das Seil ergriff: „Das Läuten fehlt mir, Herr Direktor! Alle Tage hör’ ich es von dem Neuen, und ich selber hab’ es vierzig Jahre lang gethan – das ist hart!“

Ich erzählte meinen Kollegen von dem sonderbaren Schmerz des alten Liktoren. Sie lachten darüber, besonders die jüngeren. Aber eine Zeit lang darauf besuchte mich seine Tochter und klagte mir mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0130.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)