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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Leidenden mit irgend einem die Bewegungsfähigkeit des ergriffenen Teiles unmöglich machenden Dauerverband in das Bett zu stecken.

Das Bettliegen mußte so lange anhalten, bis Heilung erfolgt war; bei gebrochenen Knochen einige, bei Gelenkerkrankungen viele Monate hindurch. Das ist vom Uebel: der ganze Körper wird zur Ruhe gezwungen, wo die Ruhe doch nur für eines seiner Glieder erforderlich, der Gang der Lebensmaschine wird so unnötig verlangsamt, es kommt unter bestimmten Verhältnissen zu wirklichen Störungen. Und die das ganz ruhig gehaltene Glied umfassenden Muskeln werden durch die lange Unterbrechung ihrer Thätigkeit schwach, erst durch Uebung können sie die alte Kraft wieder gewinnen – allein die Uebung kann erst dann beginnen, wenn nach vollkommener Heilung der hemmende Verband entfernt war. Die Wiederherstellung der vollen Gebrauchsfähigkeit erfordert daher eine weitaus längere Zeit als die Heilung selbst.

Hessing half hier von Grund aus. Er baute Apparate, welche dem leidenden Teil Stütze gewähren, dem kranken Menschen die freie Bewegung lassen. Dadurch, daß er auf unversehrte Körperteile die Aufgabe der erkrankten übertrug, schaltete er diese aus, er ließ die zur Leistung fähigen solange die Arbeit der zeitweilig unfähigen übernehmen, bis Heilung eingetreten war. Das ist der Gedanke eines genialen Menschen; denn er ist einfach, für manchen zu einfach und daher unverständlich! Um das Einfache allen verständlich zu machen, dazu gehört noch die Gestaltungskraft des Künstlers – Hessing dachte und schuf. Wieder und wieder mußte er auf den Versammlungen der Aerzte, in den Kliniken der Universitäten das Unerhörte und Unglaubliche den Zweiflern vor Augen führen. Es schien doch kaum denkbar, daß ein gebrochenes Bein die Last seines Körpers tragen und dabei heilen könne! Jetzt ist man davon überzeugt – der Grundgedanke Hessings wird mehr und mehr zum Gemeingut. Freilich seine Durchführung ist nicht jedermanns Sache, dazu gehört eben die Meisterhand. Das wird auch eingeräumt. Man sucht sich zu helfen, so gut es eben geht, man bemüht sich, mit billigerem, minder schwer zu handhabendem Material auszukommen. – Hessing selbst hat bei seinem „Kriegsapparat“ eine verhältnismäßig einfache Konstruktion durchgeführt und genaue Auskunft darüber gegeben, wie man vor dessen Anlegen verbinden soll.

Dieser „Kriegsapparat“ ist seinem Namen entsprechend eigentlich dazu bestimmt, Verwundete mit zerschossenen Gliedern sicher und ohne ihnen Schmerz zu machen zu transportieren. Neuerdings konstruierte Hessing eine Tragbahre, welche es erlaubt, die auf dem Schlachtfelde Verletzten in gesicherter Körperlage, ohne daß sie durch die Bewegung Schmerz empfinden, fortzuschaffen – dabei sind die Ansprüche an die Träger auf ein geringes Maß von Kraftaufwand beschränkt.

Der Grundgedanke Hessings: Entlastung des leidenden Teils, Uebertragung der Arbeit auf gesunde Teile, bewährt sich in allen den Fällen, wo überhaupt mechanisches Eingreifen möglich. Ich kann nicht alles erwähnen, ich will nur ein scheinbar weitabgelegenes Gebiet streifen: die sicheren Erfolge Hessings bei der Behandlung chronischer Erkrankungen des Rückenmarks durch seine Korsettbehandlung.

Und nun noch: Was ist Hessing als Mensch? Wer ihn mit einem Blick, mit einem Wort alles, was in seiner Nähe ist, beherrschen sieht, kennt in ihm nur den gebietenden Herrn, dem jeder unterthan ist. Wer Hessing näher steht, wer wie ich ihn Freund nennen darf, weiß, daß er ein von Herzensgüte erfüllter Idealist ist wie wenige Menschen. – Auch das Auge des Dichters blickt scharf. „Ich sah“ – sagt Wilbrandt – „wie seine Kleinen ihn liebten, mit welcher natürlichen rührenden Herzlichkeit die jungen Augen zu ihm aufblickten, wenn sie ihn begrüßten, während von seiner kraftvollen, durch und durch mannhaften Gestalt die schlichteste Menschenfreundlichkeit ausstrahlt.“ Die letztere haben auch von den Großen viele empfunden. Aber darüber schweige ich, denn Hessing will nicht gefeiert und nicht gepriesen sein.

1894 waren 25 Jahre vergangen, seit Hessing in Göggingen thätig ist. Viele seiner früheren Kranken wünschten ihrer dankbaren Verehrung durch festliche Begehung des Tages Ausdruck zu geben. Er wünschte das nicht. Aber er muß es sich nun schon gefallen lassen, daß einer unter den vielen seiner Geheilten ein bescheidenes Gedenkblatt an die reiche und gesegnete Lebensarbeit des Meisters der mechanischen Heilkunst hier niederlegt.




Mein Roman.

Novelle von Eva Treu.
(Fortsetzung.)

Ein bißchen zerzaust und erhitzt sah ich wohl aus, als ich mich anschickte, den Besuch zu empfangen; aber das ließ sich jetzt nicht ändern, obgleich es mir trotz meiner Gleichgültigkeit gegen die Männerwelt doch nicht ganz einerlei war, welchen Eindruck ich machte. Der junge Herr – „Franz Forst, Dr. med., prakt. Arzt“ stand auf der Karte, die Male uns überbracht hatte – mochte sich inzwischen die Kupferstiche und Photographien an unseren Wänden betrachtet haben; er kehrte der Thür den Rücken, als ich eintrat, wandte sich aber schnell und verbindlich um und zeigte ein hübsches junges Gesicht mit einem flotten braunen Schnurrbart und guten, ehrlichen Augen. Er sah weder geistreicher, noch schöner, noch eleganter aus als die meisten anderen Menschen, mit denen ich bisher verkehrt hatte, etwas Besonderes schien er in keiner Hinsicht zu sein. Wie sollte auch wohl etwas Besonderes nach unserem weltvergessenen Städtchen kommen? Lächerlich!

„Vater ist leider für ein paar Tage verreist, Herr Doktor,“ sagte ich, „er wird sehr bedauern, Sie verfehlt zu haben, und Mutter läßt bitten, sie entschuldigen zu wollen; es ist ihr augenblicklich unmöglich, hereinzukommen. Wir sind beim Reinmachen – auch ich bin im Morgenkleide, wie Sie sehen, Sie müssen es schon verzeihen.“

Sein Blick umfaßte für einen Augenblick meine ganze kleine Person – krauses, etwas zerzaustes Haar, blauen, bedruckten Kattunmorgenrock, leinene Hausschürze und so weiter, und seltsamerweise schien ihm der Anblick, der doch vermutlich nicht sehr schön war, keineswegs zu mißfallen, denn er lächelte, wie man über etwas Hübsches lächelt, und sagte: „O, was das anbelangt, ich habe eine besondere Vorliebe für Hauskleider, und im übrigen bin ich es ja wohl, der sich entschuldigen müßte, da ich Ihnen zu so sehr unpassender Zeit in das Haus falle.“

„Ja, das konnten Sie doch nicht wissen.“

„So ungefähr hätte ich es mir ja wohl denken können, als ich auf den Flur trat,“ meinte er und lachte über das ganze Gesicht, wohl in Erinnerung an Males holdselige Erscheinung. Was für prachtvolle Zähne er hatte, und wie merkwürdig das Lächeln sein Gesicht verschönte! Und ein hübsches Kinn hatte er auch. Mir dämmerte eine Ahnung auf, als könnte ich ihn mit der Zeit vielleicht ganz nett finden, aber ich entgegnete trotzdem ein bißchen impertinent: „Ach, von solchen Dingen werden Sie doch wohl nicht viel verstehen – ein junger Herr!“

„Sollte es nicht vielleicht möglich sein, daß junge Herren zuweilen liebe, alte Mütter und gute, wirtschaftliche Schwestern haben, und daß solche Mütter und Schwestern gelegentlich auf den Einfall kommen, auch einmal Scheuerfest zu halten? Oder sind die Scheuerfeste ein ganz besonderes Privilegium Ihrer Heimat?“ fragte er belustigt.

Ich lachte, weil ich nicht recht etwas zu antworten wußte, und ich weiß nicht, wie das so kam, anstatt daß er sich nun empfohlen hätte, wie ich es erwartet und Mutter es prophezeit hatte, saßen wir beide gleich darauf auf Stühlen und plauderten frisch drauf los. Und als wenn es das natürlichste Ding von der Welt wäre, daß ich selbständig den Besuch junger Herren entgegennähme, dauerte unsere Unterhaltung eine ganze lange Weile, bis der Herr Doktor auf einmal inne wurde, wie rücksichtslos und unpassend er die so überaus kostbare Zeit der vielbeschäftigten Haustochter in Anspruch nähme, aufstand und sich eilig empfahl, zum dritten- oder viertenmal lebhaft bedauernd, daß er nicht das Vergnügen hatte haben können, sich den Eltern vorzustellen.

Ich sah ihm durch das Wohnstubenfenster nach, bis nichts mehr von ihm zu erblicken war. Er hatte eine recht hübsche Figur, war aber nicht über Mittelgröße und eher ein wenig zu kräftig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0158.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)