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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


über mein wohlgelungenes Werk machten und Doktor Forst, der die Schüssel vorher hatte vorübergehen lassen, sich eine große Portion auffüllte und anscheinend mit dem besten Appetit verspeiste.

Ich schenkte den Thee ein und besorgte die Aufwartung, da Mutter fand, daß Dienstboten im Zimmer die Gemütlichkeit stören, und ein besonderes Glück wollte, daß ich an diesem Abend weder einen Rahmtopf umstieß, noch einen Tassenhenkel zerbrach. Ueberhaupt war es ein wirklich hübscher Abend. Ich saß bei Tisch neben Doktor Forst; er war sehr lustig und nett. Später sang er auch am Klavier einige hübsche Lieder. Er hatte eine nicht gerade sehr geschulte, aber frische Stimme, einen schönen, weichen Bariton und begleitete sich selbst ohne Noten. Stundenlang hätte ich ihm zuhören können; es war gerade solch ein Klang in der Stimme, der mir zu Herzen ging.

Ich saß in der Nähe des Klaviers und konnte sein Gesicht sehen. Zuletzt sang er noch das reizende Studentenlied von der Lore, bei dem mir immer zu Mute ist, als müßte ich gleich mit einstimmen. Und jedesmal, wenn da kam:

„Sie ist mein Gedanke bei Tag und bei Nacht
Und wohnet im Winkel am Thore,“

traf mich auf einmal sein Blick. Zuerst meinte ich, es wäre Zufall, und ärgerte mich, daß ich rot wurde. Ich heiße ja auch gar nicht Lore, sondern Lene und wohne allerdings im Winkel, aber nicht am Thor, sondern am See. Aber der Zufall wiederholte sich – und zuletzt wartete ich schon förmlich darauf, daß der Doktor mich ansehen sollte, als der Refrain wiederkehrte.

Und als die Gäste sich endlich, wie immer bei uns, ziemlich spät in heiterer Laune entfernten, da sagte dieser sonderbare Mensch, als er mir ein wenig abseits von den anderen die Hand zum Abschied gab: „Gute Nacht, Fräulein Lore.“ Ich that, als merkte ich nichts davon, da ich mir nicht gleich klar darüber war, ob ich ihn korrigieren müßte oder nicht.

Alles in allem war es, wie gesagt, ein hübscher Abend, der mir schließlich sogar noch ein Lob von Mutter eintrug, weil ich mich nach ihrer Ansicht „so ziemlich benommen“ und nichts zerbrochen hatte.

Kurze Zeit darauf hielt eine meiner Freundinnen Hochzeit, und der Polterabend wurde mit sehr vielen Aufführungen und Scherzen ins Werk gesetzt. Das kostete natürlich viele Vorbereitungen. Zwei von uns, Grete Müller und ich, stellten Poesie und Prosa dar, die das Leben des jungen Ehepaares künftig beherrschen sollten. Der Gedanke war wohl schon ein bißchen abgedroschen, aber Grete Müller, die herrliches blondes Haar hatte und unglaublich eitel darauf war, wollte auf die Gelegenheit, die schweren mattgoldenen Massen lang aufgelöst um sich herwallen zu lassen, durchaus nicht verzichten und beharrte darauf, die Rolle der „Poesie“ zu übernehmen. So mußte ich denn wohl oder übel die „Prosa“ vorstellen im Gewande einer altdeutschen Hausfrau, mit dem klirrenden Schlüsselbund an der Seite.

Der Anzug war ja soweit ganz kleidsam, aber ich ärgerte mich doch ein bißchen, denn Grete Müller hatte nicht einen Funken poetischen Geistes in sich. Warum mußte sie nun trotzdem gerade die Poesie darstellen und ich die Prosa, die mir doch so verhaßt war?

Natürlich sah Grete mit dem süßen, zarten Gesicht und den großen blauen Augen „voll Seele“, mit dem weißen, schlichten, leichten Tüllkleide und dem Kranz von blaßroten Rosen entzückend aus, wenn sie auch die Verse herunterhaspelte, als wüßte sie garnicht, was sie sagte, und natürlich waren alle entzückt von ihrer Schönheit. Ich, das weiß ich wohl, sah lange nicht so gut aus, und das war auch nicht von mir zu verlangen. Doktor Forst hatte freilich trotzdem den schlechten Geschmack, mich hübscher zu finden als Grete, wenigstens that er so, und er sah so ehrlich dazu aus und tanzte so viel mit mir, daß ich kaum anders konnte, als ihm glauben. Ich hätte so gern noch etwas für mich allein vorgestellt, etwas Poetisches mit eigenen Versen, wenn auch ohne aufgelöste Haare, aber es waren schon zu viele Aufführungen angemeldet, ich mußte mich bescheiden. So war und blieb ich denn den ganzen Abend altdeutsche Hausfrau und Prosa des Lebens, habe mich aber doch, daß ich’s nur gestehe, recht poetisch glücklich dabei gefühlt. Tanzen ist doch etwas Herrliches, und Doktor Forst tanzte so gut. – Zur Hochzeit am nächsten Tage war ich als Brautjungfer auch geladen. Da war es aber langweilig. Ich hatte einen öden Gerichtsassessor als Tischherrn, und Doktor Forst war gar nicht eingeladen worden.

Es war ein recht bewegter Sommer. Wieder kurz darauf veranstaltete der Herrenklub für die während des Winters angesammelten Skatgelder eine Kahnpartie mit Damen. Selbstverständlich waren wir dabei. So etwas ist ja nun immer reizend. Ich hatte meinen Platz hinten in einem der Boote neben dem Steuer, dessen Doktor Forst sich bemächtigt hatte. Anfangs wußte er nicht recht damit umzugehen, denn er war nicht aus einer Wassergegend, sondern in den Bergen zu Hause, ich aber hatte oft gesteuert und zeigte ihm, wie es gemacht wird. Es war sehr nett – wirklich sehr! Ich bin ja tausendmal auf dem Wasser gefahren und kannte schon immer kein schöneres Vergnügen, aber ich wüßte nicht, daß es mir jemals vorher so ausnehmend gut gefallen hätte wie diesmal.

Ja, wie schön war es doch, als wir landeten, uns im Gehölz lagerten und die furchtbar prosaischen, aber doch recht angenehmen Eßkörbe hervorgeholt wurden, die Herren trockene Reiser sammelten und Feuer anmachten, das zuerst so gräßlich qualmte und nachher beinahe den Wald angezündet hätte, wie wir Kaffee kochten und Butterbröte und Kuchen vertilgten! Und die Freude, die ich dabei empfand. Unsere Plättchen hatte ich selbst gebacken, es war ein einfaches Rezept, aber sie waren gut geraten, und Doktor Forst aß sie beinahe allein, er aß gar nichts anderes! Dann zerstreuten wir uns gruppenweise in unserem herrlichen, grünen, frischen Wald und ganz zufällig blieben wir, Doktor Forst und ich, ein wenig hinter den anderen zurück und sprachen so mancherlei, und es war so still und grün um uns her, die kleine Quelle rieselte so blank und leise neben uns, die Vögel zwitscherten, und aus der Ferne hörte man zuweilen ein Lachen oder einen hellen Ruf, bis ich dann auf einmal ganz beklommen leise sagte: „Ich glaube, wir müssen schneller gehen“, und er die Hand auf meinen Arm legte und bat: „Ach nein!“ und mich so – so – sonderbar dabei ansah … Und wie wir dann nachher, viel später, wieder in unseren Kähnen zurückfuhren und der Mond auf das Wasser schien, glänzend wie Silber und Gold und träumerisch wie das Glück – wie der Gesang dann vielstimmig über das Wasser hinhallte, so wie er nie bei Tage klingt, und ich nicht mitsang, sondern nur immer auf die eine schöne Stimme horchte, die mir so nahe war – wie eine warme Hand die meine faßte, und die beiden Hände dann ganz still und zutraulich so blieben, bis zuletzt … ach Gott, das klingt ja alles nach gar nichts, wenn ich es so hinschreibe, man muß es auch eigentlich gar nicht schreiben oder davon sprechen, wenn man nicht den Duft davon streifen will – aber ich weiß ganz gewiß, es war das Liebste und Süßeste, was ich bis dahin erlebt hatte.

Als ich an diesem Abend zu Bett ging, konnte ich lange, lange nicht einschlafen. Ich hatte den Vorhang vom Fenster zurückgeschlagen und konnte gerade zum Himmel emporsehen, von dem der Mond so ruhig, klar und schön herniederleuchtete und an dem die Millionen Sterne so feierlich strahlten. In meinem Herzen war es auch feierlich, als wenn etwas ganz Neues und Reines darin eingezogen wäre, und ich sagte mir leise, wie man sein Gebet sagt, daß ich nichts auf der Welt, kein Ding und keinen Menschen, so lieb hätte wie Franz Forst.

„Franz“, ich sagte es ein paarmal in Gedanken vor mich hin. „Franz“ – eigentlich fand ich den Namen nicht hübsch, seit ich die „Räuber“ gelesen hatte, aber wenn man ihn ganz leise und sanft sprach und sich ein Paar schöner brauner Augen dazu dachte, klang er doch merkwürdig gut.

„Franz – mein Franz“, ob ich das wohl einmal sagen würde, indessen mich ein kräftiger Arm fest, ganz fest umschlang und ich meinen Kopf ganz sicher und geborgen an ihn schmiegen durfte? Ich atmete tief auf. Ja doch, ja, es mußte ja so kommen! Er hatte mich ja auch lieb, ganz gewiß, nur gesagt hatte er mir’s noch nicht. Und das sollte er auch gar nicht. Gerade so hinleben und jeden Augenblick denken, nun könne es kommen, das köstliche Wort, gerade das war ja schön, – noch viele, viele Male so wie heute es fühlen, und doch nicht sagen – o Gott, was für eine schone Welt war es doch!

Aber endlich schlief ich doch wohl ein, denn ich glaube nicht, daß selbst die heißeste Liebe, wenn sie in einem zwanzigjährigen Herzen glüht, es fertig bringt, eine ganze lange Nacht über sich selbst nachzudenken. Ich schlummerte also doch ein und schlief, bis in den hellen Tag.

(Schluß folgt.)


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