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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Ruhig, Wotan – ich bin es!“ rief der Gast. Wotan hörte kaum die bekannte Stimme, als sein Gebell sich in freudiges Gewinsel verwandelte. Es war ein prächtiges Tier, riesengroß und offenbar auch riesenstark; das dichte dunkelgraue Fell war hier und da mit schwarzen Streifen gezeichnet, der mächtige Kopf, den eine förmliche Mähne schmückte, hatte etwas wolfsartiges, aber das eben noch so zornige Tier schmiegte sich jetzt schmeichelnd und wedelnd an den Eintretenden und ließ es sich nicht nehmen, ihn nach dem Hause zu begleiten.

Das Gebell des Hundes hatte inzwischen noch einen zweiten Wächter herbeigezogen. Am Fuße der Steintreppe tauchte ein alter aber noch rüstiger Mann auf, eine kräftige Gestalt, in Lodenjacke und Kniehosen, mit einem verwitterten, griesgrämigen Gesicht. Er schien Diener und Gärtner in einer Person zu sein und nicht übel Lust zu haben, den schweren Spaten, den er in der Hand hielt, gegen den Eindringling zu brauchen. Beim Anblick desselben wurde seine grämliche Miene zwar nicht freundlicher, aber doch minder grimmig. Er zog den Hut und ließ ein brummiges „Grüß Gott!“ hören. Dann gab er den Eingang frei und ging, um eilig das Gitterthor zu schließen, das halb offen geblieben war. Sonneck mußte unwillkürlich lächeln, die „Instanzen“ blieben auch ihm nicht erspart. Er hatte dem Alten flüchtig zugenickt und trat nun in das Haus.

Der Professor befand sich jetzt in seinem Arbeitszimmer, das ebenso groß, aber womöglich noch düsterer war als das Wohngemach und auf der anderen Seite der Flurhalle lag. Hier sah man nur Bücher und nichts als Bücher, die ganze umfangreiche Bibliothek Helmreichs war in diesem Raume untergebracht. Die offenen Schränke nahmen die ganzen Wände bis hinauf zur Decke ein und ließen gar keinen Platz für andere Gegenstände. Am Fenster stand ein großer Schreibtisch, der mit Papieren, Büchern und Manuskripten förmlich belastet war, und davor ein hoher Lehnstuhl, mit schwarzem Leder überzogen. Beide zeigten die Spuren langjähriger Benutzung, sonst fehlte auch hier jeder Zimmerschmuck und damit jede Behaglichkeit. Dort, wo der Schreibtisch stand, hatte man allerdings einen Teil der Tannenzweige draußen entfernt, um Licht für die Arbeit zu schaffen, dafür drängten sie sich vor dem anderen Fenster um so dichter zusammen, so daß in diesem Teile des Zimmers eine halbe Dämmerung herrschte.

Professor Helmreich saß in dem Lehnstuhl und vor ihm auf einem niedrigen Sessel ein junges Mädchen, das ihm aus einem Buche vorlas, sich aber beim Eintritt des Gastes sofort erhob.

„Guten Tag, Fräulein Elsa!“ sagte dieser, ihr die Hand reichend. „Wie geht es, Herr Professor? Leider, wie ich eben hörte, nicht zum besten, ich bin gerade dem Hofrat begegnet.“

„Jawohl, er hat mich wieder einmal gequält mit seinen Verordnungen und Befehlen,“ murrte der Professor. „Helfen kann er mir natürlich nicht. – Nehmen Sie Platz, Lothar! Du kannst jetzt gehen, Elsa.“

„Ich muß Dir erst Deinen Wein bringen, Großvater,“ erinnerte das junge Mädchen.

„Laß mich in Ruhe, ich mag nicht!“

„Aber der Hofrat hat mir eigens aufgetragen, Dir vormittags –“

„Den Hofrat soll der Kuckuck holen – ich will nicht, sage ich Dir!“

Elsa schwieg bei dieser unfreundlichen Abweisung und blickte nur wie Hilfe suchend zu Sonneck hinüber, der denn auch nicht zögerte, für sie das Wort zu ergreifen: „Ich denke, Sie wollen sich arbeitsfähig erhalten für Ihr letztes großes Werk,“ sagte er ruhig. „In Ihrem Alter geht das nicht ohne solche Kräftigung, das müssen Sie sich doch selbst sagen.“

„Der Hofrat hat mir ja das Arbeiten verboten,“ grollte Helmreich, den der Besuch des Arztes offenbar in die übelste Laune gebracht hatte.

„Nicht verboten, nur beschränkt, und da hat er recht. Nehmen Sie sich an mir ein Beispiel! Glauben Sie, daß es mir, der nie gewußt hat, was Schonung heißt, jetzt leicht wird, mich all den Vorschriften der Kur zu fügen? Ich trage eben der Notwendigkeit Rechnung, das müssen wir alle.“

Die ruhige Bestimmtheit dieser Worte verfehlte nicht ihren Eindruck auf den alten eigensinnigen Mann, er machte eine ungeduldige, aber doch zustimmende Bewegung.

„Nun denn, meinetwegen – gieb das Zeug her!“

Elsa trat an einen kleinen Tisch, der an dem anderen Fenster stand, und goß aus einer Karaffe schweren dunklen Wein in das bereitstehende Glas. Sonnecks Blick hing dabei unverwandt an dem jungen Mädchen, das er einst als Kind in den Armen gehalten und nun erst nach zehn langen Jahren wiedergesehen hatte.

Von dem Kinde war freilich nichts mehr zu entdecken in dieser hohen, schlanken Mädchengestalt, aber sie hatte auch keinen Zug mehr von dem kleinen sonnigen Wesen, das einst so süß schmeicheln und so trotzig aufflammen konnte, wenn es gereizt wurde. Schön war Elsa von Bernried allerdings geworden. Was damals noch in der Knospe schlief, das entfaltete sich jetzt in der vollen, rosigen Frische der Jugend, aber es lag etwas eigentümlich Kaltes, Ernstes in der ganzen Erscheinung, und das jugendliche Antlitz hatte einen Ausdruck, der beinahe herb erschien. Und doch war das Mädchen kaum achtzehn Jahr alt.

Das blonde Haar war im vollsten Widerspruch mit der herrschenden Mode einfach gescheitelt und legte sich in zwei schweren, goldig schimmernden Flechten um den Kopf, den sie wie ein Kranz schmückten. Das war aber auch der einzige Schmuck, denn weder das graue Hauskleid, noch das glatte weiße Schürzchen zeigten auch nur das Geringste von jenem zierlichen Tand, mit dem die Jugend sich so gern schmückt, sie waren von höchster Einfachheit. Auch die Bewegungen Elsas hatten, trotz aller Anmut, etwas Einförmiges, Abgemessenes und ihr auffallend schweigsames und zurückhaltendes Wesen vollendete noch das Befremdende des ganzen Eindrucks, der so vollständig im Widerspruch mit der Schönheit und dem Alter des Mädchens stand.

Sie brachte jetzt das gefüllte Glas dem Großvater, der es widerwillig genug nahm und dann kurz und herrisch seinen früheren Befehl wiederholte: „Und nun geh’, wir wollen allein sein!“

Elsa gehorchte schweigend, sie schien vollständig an diese Behandlung gewohnt zu sein. Sonnecks Augen folgten ihr auch jetzt, als sie das Zimmer verließ, dann sagte er halblaut: „Sie haben sich eine sehr gehorsame Enkelin erzogen, Herr Professor.“

„Nun ja, es hat auch Mühe genug gekostet,“ entgegnete Helmreich kühl. „Sie ahnen nicht, was ich im Anfang für Not hatte mit dem verzogenen kleinen Geschöpf, das gewohnt war, überall seinen Willen zu haben, und gar nicht wußte, was Gehorsam ist. Es zeigte bei jeder Gelegenheit einen Trotz und eine Leidenschaftlichkeit, die gar nicht zu bändigen waren. Nun, ich habe sie gebändigt, aber ich mußte zu den allerschärfsten Mitteln meine Zuflucht nehmen. Ja, Lothar, da runzeln Sie nun wieder die Stirn, ich weiß es längst, daß Sie meine ganze Erziehungsweise für eine Grausamkeit halten. Sie haben mir das oft genug zu verstehen gegeben, aber ich habe es erfahren, wohin es führt, wenn man ein Kind verwöhnt und vergöttert, wenn man ihm jeden Wunsch erfüllt, jede Freiheit gestattet. An mir hat sich das schwer genug gerächt – das Ende war Unheil und Schande.“

„Schande haben Sie an Ihrer Tochter nicht erlebt, die Ehe von Elsas Eltern war eine völlig korrekte!“ warf Lothar mit Nachdruck ein. „Sie ließen sich ja nach jener Flucht trauen, freilich ohne den Segen des Vaters.“

Helmreich lachte herb und höhnisch auf.

„Jawohl, ohne den Segen des Vaters! Das heißt, sie lief bei Nacht und Nebel davon mit ihrem Geliebten und die ganze Universität zeigte mit Fingern auf ihren Rektor, dem das seine Tochter anthat! Schweigen Sie mir davon, ich kann noch jetzt nicht daran denken, aber ich will es nicht zum zweitenmal erleben! Deshalb habe ich Elsa so und nicht anders erzogen.“

„Und dabei haben Sie ihre eigentliche Natur vollständig gebrochen – freilich, das wollten Sie ja!“

„Ganz recht, das wollte ich, denn darin lag die größte Wohlthat für das Mädchen. Ich weiß es nur zu gut, von wem diese ‚Natur‘ stammte, dieser störrische Eigenwille, diese maßlose Leidenschaftlichkeit, die sich gegen alle Schranken und Pflichten aufbäumt. In dem achtjährigen Kinde schon verriet sich das Blut des Vaters, dieses Buben, der mir die Tochter stahl –“

„Ludwig von Bernried ruht seit zehn Jahren im Grabe, lassen Sie ihn ruhen!“ unterbrach ihn Lothar ernst; aber die Mahnung fruchtete nichts bei dem Erregten, er fuhr mit bitterem Spott fort: „Sie haben ihn wohl sehr betrauert, Ihren Busenfreund, und er hat doch auch Sie betrogen, damals als Sie die Hand boten zu jener Zusammenkunft – Lothar, das habe ich Ihnen auch heute noch nicht verziehen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0182.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)