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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung.

Von Prof. A. Eulenburg in Berlin.

In einem Zeitalter, das sich selbst mit einem gewissen Stolz als das nervöse hinzustellen liebt, und das im Genusse seiner glücklich erstiegenen Kulturhöhe fast auf allen Lebensgebieten das Unnatürliche, das „Komplizierte“ und „Raffinierte“ vor dem Einfachnatürlichen so ersichtlich bevorzugt, kann es bereits nicht mehr genügen, schlechtweg „nervös“ zu sein: man muß sich vielmehr, um auf volle Zeitgemäßheit Anspruch zu machen, noch durch die besondere, den individuellen Verhältnissen entsprechende Abart und Form der Nervosität ausweisen können! Wie es bekanntlich sehr verschiedene Arten von Ehre giebt, je nach Ständen, Berufsklassen und nicht zum wenigsten natürlich nach dem Geschlechte, so „erfreuen“ wir uns auch des anerkannten Besitzes mannigfaltiger, sozusagen mit einem bestimmten Lokalkolorit behafteter Arten von Nervosität, wobei wiederum teils die Standes- und Klassen-, teils die Geschlechtsunterschiede, außerdem aber noch die Lebensalter das trennende und charakterisierende Moment bilden. Von einer Nervosität des kindlichen Alters zu sprechen wäre unsern Vorfahren und Vorvorfahren gewiß noch als etwas Ungeheuerliches, Undenkbares, als ein lebendiger Widerspruch erschienen. Das Kind, diese Verkörperung naivfreudigen Lebensgefühls, dem ein gütiges Geschick noch alle Sorgen und Kämpfe, alle verderblich wirkenden Leidenschaften und Aufregungen in weite Ferne gerückt hat – und dem gegenüber alle die nur zu wohlbekannten Zeichen der „krankhaften Reizbarkeit“ und „reizbaren Schwäche“, der Zerfahrenheit und der Unzulänglichkeit für die herantretenden Lebensaufgaben, wie wir sie mit dem Begriffe der entwickelten und voll ausgereiften Nervosität der Erwachsenen ohne weiteres verbinden!

Und doch ist es so: doch vermögen wir Aerzte wenigstens uns schon längst der niederdrückenden Erfahrung nicht mehr zu entziehen, daß sogar im zarten kindlichen Lebensalter die schweren und schwersten Formen der Nerven- und Geistesstörung in immer gesteigerter, schreckenerregender Häufigkeit zur Entfaltung gelangen! Und bei näherer Betrachtnng haben wir kaum einen Grund, uns über diese fürchterliche Thatsache auch nur zu verwundern. Von der weitaus überwiegenden Mehrzahl der späteren Nerven- und Geisteskranken müssen wir, nach den Ergebnissen immer und immer wieder bestätigter Untersuchungen, annehmen, daß sie von Anfang an nicht frei war von krankhaften, vielfach auf Vererbung zurückführbaren Anlagen, oder von beginnenden, erst leise angedeuteten Krankheitskeimen, deren rasches und üppiges Aufschießen nur durch entgegenwirkende Einflüsse, durch die Gunst der Verhältnisse also, zeitweise gehemmt und in Schranken gehalten wurde. Nur zu viele aber von diesen unselig Veranlagten trafen es schon in Kindheit und Jugend minder gut; bei ihnen wurde im Gegenteil schon in den grundlegenden Jahren durch allerlei verderbliche Einflüsse der Erziehung und der ganzen Umgebung ein üppiges Wuchern der Krankheitskeime angeregt und gefördert. So habe ich selbst unendlich häufig schon bei Knaben und Mädchen im ersten Lebensjahrzehnt die ausgeprägten Erscheinungen schwerer Hysterie, und bei Zehn- und Zwölfjährigen wiederholt das Bild der mit Sinnestäuschungen verbundenen chronischen Verrücktheit (Paranoia) beobachtet. Zuweilen wird der Abgrund solcher Zustände, gegen den wir nur zu gern so lange wie möglich die Augen verschließen, wie mit einem grellen Blitzstrahl durchleuchtet. So bei den häufigen Tagesmeldungen über Kinderverbrechen: von Kindern begangene schwere Eigentums- und Sittlichkeitsverbrechen, Morde, selbst Elternmorde! Fast noch unheimlicher berührt die zunehmende Häufigkeit von Selbstmorden im kindlich jugendlichen schulpflichtigen Alter. Vor mehreren Jahren erst machte eine Verfügung des preußischen Unterrichtsministeriums an die Direktoren der höheren Schulanstalten in den Blättern die Runde, die auf diese beklagenswerte Thatsache der häufigen Schülerselbstmorde die Aufmerksamkeit lenkte und die Pflicht der Unterrichtsverwaltung betonte, nach Mitteln zu suchen, um die krankhaften Neigungen des heranwachsenden Schülergeschlechts nach Möglichkeit zu bekämpfen. Ob man solche „Mittel“ inzwischen gefunden, ob man auch nur ernstlich und andauernd danach gesucht hat? Es wird vielleicht erlaubt sein, daran bescheiden zu zweifeln.

Freilich würde man der Schule – das ist von vornherein festzuhalten – das größte und schreiendste Unrecht zufügen, wollte man sie allein und ausschließlich für die traurigen Folgewirkungen verantwortlich machen, die aus so mancherlei von ihr ganz unabhängigen, in Haus und Familie wurzelnden Ursachen entspringen oder sich, wie bereits angedeutet wurde, aus dem Keime mitgebrachter, großenteils angeborener und ererbter krankhafter Veranlagung entwickeln. Der Prozentsatz derjenigen, die schon mit den Zeichen nervöser Disposition behaftet die Schulen aufsuchen, ist, wie bezügliche Untersuchungen gelehrt haben, erschreckend hoch – wenn er auch immerhin noch erheblich hinter dem Prozentsatz derjenigen Schüler zurückbleibt, die, zumal in den mittleren und oberen Gymnasialklassen, die mehr oder weniger schweren Erscheinungen eines gestörten und krankhaft veränderten Nervenlebens, die Erscheinungen der „Schulnervosität“ darbieten. Wenn wir also auch gern der Schule gegenüber gerecht sein wollen – wenn wir sogar den größeren Teil der Schuld auf Haus und Familie abwälzen, die ihre vorbereitende erzieherische, sittlich festigende und körperlich kräftigende Aufgabe an den Kindern oft so mangelhaft gelöst und die Schule mit ungeeigneten, unfähigen Elementen zu beiderseitigem Nachteil belastet haben: so läßt sich doch auch die Schule von einer direkten und indirekten Mitschuld an der betrübenden Lage der Dinge keineswegs freisprechen. Viele der gegen sie erhobenen Einzelvorwürfe sind nur allzu berechtigt; und sie werden, wie doch nicht zu verkennen ist, um so härter und schwerer empfunden, weil dem Publikum die Schule als ein Starres, Gegebenes, Unabänderliches gegenübersteht, worauf einen Einfluß zu üben schlechterdings unmöglich erscheint, und in dem zumal empfindsame Mutterherzen oft den Moloch erblicken, in dessen geöffnete Arme sie ihre Kinder als bedauernswerte Opfer staatlicher Barbarei abliefern müssen.

Ich habe bereits bei einer früheren Gelegenheit und an anderem Orte[1] den Versuch gemacht, die „nervenfeindlichen Potenzen“ der Schule genauer zu zergliedern und auf ihre einfachsten Bestandteile zurückzuführen. Im folgenden will ich mich, soweit es für nichtärztliche Leser verständlich und auch für solche, wie ich glaube, von Wichtigkeit ist, nur mit jenen krankhaften Störungen beschäftigen, die man heutzutage vielfach unter dem schon erwähnten Ausdrucke „Schulnervosität“ zusammenfaßt – sowie mit dem Verhältnisse dieser Störungen zur „Schulüberbürdung“. –

Unter Schulnervosität verstehen wir einen in seinen Hauptzügen wohl charakterisierten, im einzelnen allerdings nicht bloß gradweise, sondern auch seiner Zusammensetzung nach vielfach wechselnden Inbegriff nervöser Störungen, zumeist in Verbindung mit Blutarmut und allgemeiner Ernährungsschwäche, wie wir ihn in dieser typischen Ausprägung gerade bei schulbesuchenden Kindern, also vom 7. Lebensjahre aufwärts bis an die Grenze des Schulalters, in nach oben stetig wachsender Zahl und Schwere überaus häufig beobachten. Wie häufig? – darüber gehen allerdings die Angaben der verhältnismäßig wenigen ärztlichen Autoren, die dem Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zuwandten und die zugleich in der Lage waren, ein größeres „Material“ von Schulkindern methodisch durchzuuntersuchen, nicht unbeträchtlich auseinander. Natürlich kommen hierbei auch die örtlichen, nationalen und sozialen Verschiedenheiten wesentlich in Betracht. Während nach den in Schweden und Dänemark ausgeführten Untersuchungen von Axel Key fast 40% der Schulkinder an schweren, durch die Schulüberbürdung mitveranlaßten Störungen leiden, fand Nesteroff an russischen Mittelschulen 30% der Kinder nervös (neurasthenisch), und zwar in aufsteigendem Verhältnisse, so daß der Prozentsatz in der ersten (untersten Klasse) mit 15% beginnt und in der achten (obersten) bis auf 69% anwächst – also ähnlich wie es bekanntermaßen mit der Schulkurzsichtigkeit nach den Statistiken von Hermann Cohn und vielen anderen der Fall ist.

Sehr genau und durchaus vertrauenerweckend sind die von dem ungarischen Schularzte und Professor der Hygieine Schuschny neuerdings veröffentlichten Prüfungen; sie ergaben, daß von den Schülern der dortigen Staats-Oberrealschule durchschnittlich 51,7% an ausgesprochenen nervösen Störungen leiden, und zwar beträgt der Durchschnittssatz in

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0192.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2020)
  1. „Nervenfeinde in Schule und Haus.“ Vortrag im Verein „Frauenwohl“ in Berlin am 13. Mai 1890.