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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Sie blickte in ein völlig fremdes Gesicht, in ein paar große flammende Augen, die unverwandt auf ihr ruhten und ihr dieselbe Empfindung erweckten, als habe sie diese Augen schon einmal gesehen.

„Der Garten ist fest verschlossen,“ sagte sie mit scharfer Betonung. „Wie sind Sie hereingekommen?“

„Ueber die Mauer!“ versetzte der Fremde so gelassen, als sei dieser Weg ganz selbstverständlich. „Ich kann Ihnen trotzdem die Versicherung geben, mein gnädiges Fräulein, daß ich weder ein Räuber noch ein Dieb bin. Sie haben durchaus nichts von mir zu fürchten.“ Es lag etwas in der Sprache und der Haltung des Mannes, das seine Worte zu bestätigen schien, ein energischer Stolz, der jede beleidigende Annahme zurückwies. Auch Elsa mochte das fühlen, denn sie wiederholte in gemildertem Tone ihre Frage von vorhin:

„Und was wollten Sie hier, zu dieser Stunde?“

„Mir den Garten und das Haus etwas näher ansehen! Das glauben Sie mir nicht, mein Fräulein? Ich begreife das vollkommen, es ist mir aber leider nicht möglich, Ihnen eine andere Erklärung zu geben. Ich bitte nochmals um Verzeihung wegen der Unruhe, die ich unfreiwillig veranlaßt habe.“

Er blickte auf den Hund, den das junge Mädchen noch immer am Halsbande festhielt. Wotan war an strengen Gehorsam gewöhnt. Da seine Herrin ihm befohlen hatte, ruhig zu sein, so regte er sich nicht, aber er bewachte mit glühenden Augen seinen Feind, bereit, sich beim ersten Zeichen eines weiteren Vordringens wieder auf ihn zu stürzen, und ließ von Zeit zu Zeit einen dumpfen, drohenden Ton hören.

Elsa war offenbar im Begriff, die Unterredung abzubrechen; da sah sie an der herabhängenden Hand des Fremden einen schmalen roten Streifen, es war Blut, das aus dem Aermel herabrieselte.

„Sind Sie verwundet?“ fragte sie rasch.

Er lachte kurz und spöttisch auf und blickte gleichfalls auf seine Hand nieder. „Es scheint so. Ein kleines Liebeszeichen Ihres Wotan! Es ist nicht von Bedeutung, aber ich habe seine Zähne doch gespürt, als er mich vorhin an der Schulter packte.“

„Wotan hat nur seine Pflicht gethan,“ sagte das junge Mädchen mit herber Entschiedenheit. „Er soll das Haus bewachen und darf es nicht dulden, daß ein Fremder zur Nachtzeit hier eindringt. Sie können von Glück sagen, daß ich herbeikam und ihn zurückhielt, er hätte Sie sonst vielleicht zerrissen.“

„Glauben Sie das, mein Fräulein?“ fragte der Fremde, dessen Augen noch immer auf ihrem Gesichte ruhten. „Ich fürchte, der Ausgang wäre ein anderer gewesen, denn ich hätte mich schwerlich gutwillig zerreißen lassen, und ich habe wohl noch andere Kämpfe bestanden als den mit einem gereizten Hunde. Es hätte Ihnen wahrscheinlich das schöne Tier gekostet.“

War es der Spott in diesen Worten, der Elsa reizte, oder der Gedanke, ihr Liebling hätte wirklich das Opfer werden können, sie richtete sich plötzlich empor, sah den kecken Eindringling, der es nun gar noch wagte, zu drohen, von oben bis unten an und wies dann mit einer verächtlichen Gebärde hinaus. „Gehen Sie! Der Weg über die Mauer ist ja immer offen für Sie und Ihresgleichen. Ich werde den Hund so lange festhalten, bis Sie draußen sind.“

Der Fremde zuckte leicht zusammen bei diesem verächtlichen Tone und sein Blick sprühte zornig auf, man hörte die Gereiztheit in seiner Stimme, als er erwiderte: „Sie gebrauchen Ihr Hausrecht sehr nachdrücklich. Freilich, es ist meine Schuld, wenn ich hier wie der erste beste Ritter von der Landstraße behandelt werde. Ich kann Ihnen nur wiederholen, daß ich weder rauben noch stehlen wollte. Vielleicht gelingt es mir noch einmal, Sie davon zu überzeugen, für jetzt habe ich die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, Fräulein von Bernried!“

Er legte einen beinahe hohnvollen Nachdruck auf das letzte Wort, verbeugte sich noch einmal und verschwand im Dunkel der Gebüsche. Ein Geräusch in der Nähe der Linde verriet bald darauf, daß er den Garten auf demselben Wege verließ, auf dem er gekommen war, und einige Minuten später sah man die hohe dunkle Gestalt am Gitterthor vorübergehen. Das junge Mädchen ließ jetzt den Hund los, der es offenbar nicht begriff, daß der Eindringling so unbehelligt gehen durfte, und sehr unzufrieden damit war. Er stürzte schleunigst nach dem Gitter und begann dann rastlos den ganzen Garten zu durchstreifen, als wollte er sich überzeugen, daß niemand mehr dort sei.

Elsa achtete nicht darauf, sie stand noch immer da und hatte die Hand an die Stirn gelegt, als sinne sie angestrengt über etwas nach. Wo hatte sie diese Stimme schon gehört, diese Augen gesehen? Der Mann war ihr ja fremd, sie kannte ihn nicht und doch war es ihr, als sei er ihr schon einmal begegnet, vor langer, langer Zeit. Und als hätten jene flammenden Augen einen Bann gebrochen, so tauchten jetzt seltsame Bilder auf, die längst versunken und vergessen waren: eine weiße, leuchtende Stadt, ein breiter, schimmernder Strom, hohe, fremdartige Bäume, die ihre Kronen bis in den Himmel hoben, und über dem allen heiße, brennende Sonnenglut. Das alles schwankte und zerfloß in nebelhaften Umrissen, es versank und tauchte wieder auf, die Bilder waren nicht festzuhalten, aber sie gaben auch keine Ruhe mehr.

Das junge Mädchen träumte mit offenen Augen, träumte in der kalten nordischen Frühlingsnacht von dem fernen Sonnenlande. Die Alpengipfel ringsum starrten in Schnee und Eis, aber wieder klangen jene geheimnisvollen Stimmen herüber, jenes dumpfe Brausen und Tosen. Der Schnee löste sich da droben, die Wasser stürzten. – Es wurde Frühling im Land!




Lothar Sonneck hatte, wie im vergangenen Jahre so auch diesmal, seine Wohnung in der Bertramschen Villa genommen, deren oberer Stock in den Sommermonaten vermietet wurde, und der Hofrat und seine Frau thaten das möglichste, es dem berühmten Gast in ihrem Hause behaglich und angenehm zu machen. Reinhart Ehrwald, der von Tag zu Tag erwartet wurde, sollte gleichfalls hier wohnen, und die drei Jungen des Doktors hatten bereits verschiedene Empfangsfeierlichkeiten für den neuen „afrikanischen Onkel“ geplant, selbstverständlich mit allerlei afrikanischen Anspielungen. Leider kam diese schöne Idee nicht zur Ausführung, denn der Erwartete traf ganz plötzlich, ohne vorherige Anmeldung ein. Er kam eines Morgens zu Fuß und ohne Gepäck, fragte nach Herrn Sonneck und begab sich sofort zu ihm.

Im Wohnzimmer Lothars saßen die beiden Gefährten, die fast ein Jahrzehnt lang unzertrennlich gewesen waren und gemeinsam Gutes und Böses durchlebt und getragen hatten. Der eine mit grauen Haaren und schwindender Kraft, der andere noch in der ersten Blüte des Mannesalters und in der Vollkraft des Lebens. Aber das Verhältnis zwischen ihnen war ein anderes geworden. Der ältere, dem Jahre und Erfahrungen einst ein so großes Uebergewicht über seinen Schützling gaben, behandelte diesen jetzt auf dem Fuße völliger Gleichheit, und der jüngere hatte längst das respektvolle „Herr Sonneck“ fallen lassen und gab ihm das brüderliche Du.

Auch an Ehrwald war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Seine hohe Gestalt, welche die Sonnecks weit überragte, war sehniger, markiger, die Züge waren fester und tiefer geworden. Das Leben voll Kampf und Gefahr, voll Anstrengungen und Entbehrungen hatte auch bei ihm Spuren zurückgelassen, aber sie standen dem Antlitz gut, das die afrikanische Sonne so dunkel gebräunt hatte. Nur das blonde Haar, das sich ebenso üppig wie einst um die hohe Stirn krauste, verriet noch den Deutschen. Seine Haltung war ruhiger, seine Erscheinung überhaupt reifer und ernster geworden, aber in den dunklen Augen flammte noch immer das alte Feuer. Jenes heiße, volle Leben, das einst so stürmisch das ganze Wesen des Jünglings durchflutete, war auch dem Manne geblieben. Er war noch jung, trotz seiner vierunddreißig Jahre.

„Mußt Du denn immer so überraschend und blitzartig kommen und gehen!“ sagte Sonneck in einem Tone, der vorwurfsvoll sein sollte und doch die ganze Freude dieser Ueberraschung verriet. „Da warte ich täglich auf das Telegramm, das mir Deine Ankunft melden soll, und auf einmal trittst Du selber zur Thür herein. Bist Du die ganze Nacht hindurch gefahren?“

„Nein, ich bin schon gestern abend angekommen,“ versetzte Reinhart. „Es war aber sehr spät und da wollte ich das Haus hier nicht in Unruhe bringen mit meiner nächtlichen Ankunft. Ich stieg deshalb im Hotel ab, das heißt, ich schickte meinen Wagen mit dem Gepäck dorthin, und ich selber –“ er hielt inne.

„Nun, und Du?“

„Ich bin zur Abwechslung einmal sentimental gewesen und ein Paar Stunden lang im Mondschein umhergestreift. Ich wollte sie doch wiedersehen – die alte Heimat!“

Die Worte klangen halb spöttisch, Sonneck sah ihn prüfend an.

„Ja, Reinhart, es hat lange gedauert, ehe ich erfuhr, daß Kronsberg Deine Heimat ist. Du schwiegst jahrelang hartnäckig darüber und ich mochte nicht in Dich dringen. Warst Du – in Burgheim?“

„Ja!“ Das Wort klang beinahe grollend.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0223.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2021)